Sehr geehrte Mitglieder der Regierungskommission,

herzlichen Dank, dass Sie in dem geplanten Reformprozess die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen berücksichtigen. Vereinbarungsgemäß finden Sie anbei unsere schriftlichen Ausführungen der in der Anhörung angesprochenen Punkte.

Vorab möchten wir Sie einführend mit dem Hintergrund und der Entwicklung der Versorgung von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen vertraut machen. Hierzu möchten wir auf zwei vom BMG geförderte Projekte zur Bestandsaufnahme der Versorgung und zur Weiterentwicklung der Versorgung aufmerksam machen. In diesen von der Aktion psychisch Kranke e.V. (APK) durchgeführten Projekten wurde sowohl der Versorgungsstand innerhalb des SGB V, aber auch in weiteren Sozialsystemen und anderen Sektoren außerhalb des SGB V analysiert. Zum anderen wurden Weiterentwicklungsbedarfe aufgezeigt, dies sowohl sektorübergreifend im SGB V, als auch über die Systemgrenzen des SGB V hinaus. Auch für besondere Gruppen, wie Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung, Patient:innen mit Suchtstörungen etc. wurden entsprechende Weiterentwicklungsempfehlungen verfasst. Beide Projekte waren interdisziplinär und partizipativ unter Beteiligung von Angehörigen, der wissenschaftlichen Fachgesellschaft und den Verbänden angelegt und die Empfehlungen wurden konsensuell erarbeitet. (vgl. Handlungsempfehlungen der Aktion Psychisch Kranke; Bestandsaufnahme und Bedarfsanalyse APK)

Ambulante Versorgungsstrukturen
In den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der niedergelassenen Fachärzt:innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (KJPP) von ca. 600 auf 1.052 (Stand 31.12.2022, Ärztestatistik der Bundesärztekammer) erhöht. Die meisten Niedergelassenen arbeiten nach der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung (SPV) und versorgen in interdisziplinären Teams den bei weitem größten Teil der Patient:innen. Zusätzlich sind im ambulanten Bereich psychotherapeutisch tätig ca. 4.400 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen (Psychotherapeutenstatistik der BPthK) sowie Psychologische Psychotherapeut:innen mit Ermächtigung für Kinder und Jugendliche (Zahlen liegen uns nicht vor). In vielen schwach versorgten Regionen unterstützen Psychiatrische Institutsambulanzen die ambulante Regelversorgung.

Stationäre Versorgungsstrukturen
Die Bettenzahl in der KJP wurde seit den 1990er Jahren zuerst reduziert, wuchs jedoch in den letzten Jahren an auf aktuell rund 6.700 Betten (Destatis.de). Weiterhin gibt es ca. 4000 tagesklinische Behandlungsplätze. Die Bettenmessziffer (BMZ; Betten pro 10.000 EW unter 18 Jahren) schwankt zwischen den Bundesländern erheblich (Bayern: 3,2 – Thüringen: 10,5), wobei die großen bzw. bevölkerungsreichen Bundesländer wie BY, BW und NRW eher niedrige Bettenmessziffern aufweisen. Es gibt kein absolut objektives Maß für die notwendige Anzahl von stationären Behandlungsplätzen. Die Zahl ist u.a. abhängig von der ambulanten Versorgungssituation sowie dem Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe im Versorgungsgebiet, da diese Klientel eine im Vergleich zur Normpopulation signifikant höhere Rate an psychischen Störungen aufweist. Über 70% aller Patient:innen, die stationär behandelt werden, erhalten auch Maßnahmen durch die Kinder- und Jugendhilfe (Beck, 2015). Zudem ist das Auftreten psychischer Störungen u.a. von sozialen Faktoren abhängig, d.h. Regionen mit höherer Armutsquote können auch höhere Bedarfe haben. Schließlich spielen geografische Faktoren eine Rolle: in urbanen Verdichtungsräumen können beispielsweise aufgrund guter Erreichbarkeit tagesklinische Behandlungsplätze vollstationäre Plätze eher ersetzen als in ländlichen Regionen mit größeren Distanzen.

Bereits initiierte Modifikationen der Versorgungsstrukturen und -konzepte
Die KJPP hat umfassende Schritte hin zu einer intensivierten Ambulantisierung genommmen. Hierbei sind nicht allein der Bereich der niedergelassenen Fachärzt:innen gemeint, sondern auch Behandlungen über die psychiatrischen Institutsambulanzen nach §118 SGB V (PIA), die stationsäquivalente Behandlung (StaeB, d.h. die Verlagerung stationärer Behandlung in das häusliche Umfeld), aber auch vermehrte tagesklinische Behandlungen, die den Vorteil der besseren Transmission von Behandlungsergebnissen in den Alltag erlauben.
Die stationäre Verweildauer in der KJPP sank in diesem Prozess von mehr als 100 Tagen vor dem Jahr 2000 auf 33 Tage im Jahr 2021 (Destatis.de). Dies ist einmal durch eine hohe Anzahl von Krisenaufnahmen in der KJPP bedingt, aber auch inhaltlich durch Umstellung der Behandlungskonzepte auf eine möglichst alltagsnahe und ambulante Behandlung, sowie eine Verbesserung der ambulanten Versorgung. Kennzahlen im Bereich der KJPP müssen also hochgradig differenziert eingeordnet werden und Veränderungen müssen mit Fachexpertise betrachtet werden. Per se sind z.B. Krisenaufnahmen nicht negativ zu bewerten, da diese z.B. auch in Behandlungskonzepten bei bestimmten Störungsbildern oder aber auch im Rahmen von Kooperationsverträgen mit dem wichtigsten Rehaträger, der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), explizit vorgesehen und sinnvoll sein können.

Veränderte Indikationsstellungen für stationäre Behandlungen
Aufgrund der intensivierten Ambulantisierung erfolgte zudem eine Veränderung der Indikation für stationäre Behandlung: nicht die Diagnose per se ist in den allermeisten Fällen Grund für eine stationäre Behandlung, sondern Probleme im psychosozialen Funktionsniveau oder Teilhabeeinschränkungen, z.B. fehlender bzw. nicht möglicher Schulbesuch, starke innerfamiliäre Konflikte, Folgebedarfe in der Kinder- und Jugendhilfe, akute Eigen- oder Fremdgefährdung. Die stationäre Behandlung erfolgt also fast immer bei hochkomplexen konstellativen Bedingungen aufgrund einer Diagnose, aber eben nicht immer wegen dieser Diagnose allein.
Diesem Umstand trägt auch das EPPIK-Projekt Rechnung (vgl. weiter unten), welches von den psychiatrischen Fachgesellschaften unterstützt wird, indem es nicht diagnosebezogen, sondern aufwandsbezogen personelle Ressourcen für die Patient:innen definieren will. Stationäre Behandlung in der KJPP dient nicht der „Heilung“, sondern der der Herstellung einer ambulanten Weiterbehandlungsfähigkeit. Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter sind regelhaft chronische Erkrankungen. Schwere Verläufe mit stationärer Behandlungsindikation bedürfen damit immer auch einer Versorgungskette von ambulant über stationär und zurück in das ambulante System.

Dezentrale KJPP-Versorgungsstrukturen sind essentielles Qualitätsmerkmal
Die Behandlung muss so wohnortnah wie möglich erfolgen. Jedoch sind die Versorgungsgebiete der KJPP-Kliniken im Schnitt dreimal so groß wie in der Erwachsenenpsychiatrie, so dass eine weitere Zentralisierung nicht möglich ist. Die Organisation der Versorgung in einem Netz hochspezialisierter wohnortferner Versorgungskliniken wäre auch aufgrund der in den allermeisten Fällen während des stationären Aufenthalts notwendigen Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfe, mit Nachsorgemaßnahmen, oder bei Indikation einer Weiterbehandlung in der Institutsambulanz nicht kompatibel. Die im Bereich der KJPP wichtige Milieutherapie, die entsprechend dem Alter unserer Patient:innen auch pädagogische Maßnahmen auf Station und die Beschulung in Klinikschulen (und deren Kooperation mit Heimatschulen) beinhaltet, ist mit hochspezialisierten Einrichtungen grundsätzlich nicht vereinbar. Diese Einschätzung schließt nicht aus, dass für spezifische Störungsbilder spezifische Konzepte in den Kliniken etabliert werden oder für umschriebene Gruppen (schwere Aggression bei Intelligenzminderung, schwere Suchterkrankungen) spezialisierte Angebote vorgehalten werden können. Hierfür sehen die Landesplanungen überregionale Angebote vor.

Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Spezifika in der Entwicklung der Versorgungsstrukturen sehen wir eine Reihe von Hindernissen, die KJPP in das geplante Reformvorhaben einzubeziehen. Diese Umstände möchten wir im Folgenden erläutern und darüber hinaus auf verschiedene konkrete Aspekte hinweisen, die vorrangig einer Reformierung bedürfen.

KJPP-Kliniken werden nicht durch DRG finanziert
Die Krankenhäuser nach §17d KHG (sog. Psych-Krankenhäuser und abteilungen) folgen einer fundamental anderen Entgeltlogik als Häuser nach §17b KHG. Die Fachgesellschaft hatte sich seinerzeit bereits sehr stark gegen Diagnosis-related-groups (DRG)-ähnliche Entgelte im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) ausgesprochen. Hintergrund war und ist, dass weder Diagnosen im Bereich der KJPP trennscharf den Aufwand beschreiben, noch die spezifischen, den Aufwand bedingenden Umstände der Behandlung (z.B. soziökonomischer Status der Patient:innen/Familien, notwendige Maßnahmen nach §35a SGB VIII, schulische Eingliederungsprobleme etc.) durch DRGs abbildbar wären. Der Gesetzgeber ist dem gefolgt und hat mit dem PEPP-System (dieses liefert einen diagnosespezifischen Multiplikator) und mit der Überarbeitung der weiterhin gültigen Bundespflegesatzverordung (BPflV), die ein krankenhausspezifisches Basisentgelt vorsieht, ein pauschalierendes Entgelt geschaffen, das einerseits Tagesentgelte vorsieht, die degressiv gestaltet sind, andererseits die höheren Aufwände prinzipiell abbilden kann (z.B. Kriseninterventionen mit kurzer Liegedauer). Insofern ist die Ausgangslage nicht mit der Somatik zu vergleichen.

Keine Fehlanreize zu Leistungsausweitungen
Anders als ggfs. in somatischen Bereichen bestehen in der KJPP keine Fehlanreize zu einer unnötigen Leistungsausweitung. Da mit der Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie (PPP-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) entsprechend Personal nachzuweisen ist pro behandelten Patienten, sind ehemals durchaus bestehende Fehlanreize wie eine hohe Belegung bei zu wenig Personal Vergangenheit. Die PPP-RL verhindert zudem eine Mengenausweitung insofern, als Leistungen ohne entsprechende Personalausstattung sanktioniert und Regresse geltend gemacht werden sollen. Insofern ist eine wesentliche Motivation für die geplante Krankenhausreform, nämlich die Aufhebung der ökonomischen Anreize zur Leistungsausweitung innerhalb DRG-Systems, für die KJPP nicht zutreffend.
Die stationären Kapazitäten in der KJPP sind praktisch ausgelastet. Während in 2019 die Auslastung bei 88,7% lag, erfolgte kurzzeitig in 2020 eine Reduktion auf 78,2% infolge der Covid-19-Pandemie, war jedoch bereits 2021 mit 85,6% wieder nahezu auf dem vor-pandemischen Niveau. Damit hat sich das System erstaunlich stabil während der Pandemie gezeigt, und es zeigt sich auch, dass die Bedarfe an stationären Kapazitäten im Bundesdurchschnitt relativ stabil sind. Aufgrund der eingangs beschriebenen unterschiedlichen BMZ schließt dies nicht regionale Bedarfe nach mehr voll- und teilstationären Behandlungsplätzen aus. Wie Kölch et al. (2023) nachweisen konnten, haben sich v.a. in Regionen mit eher niedriger BMZ Verweildauern deutlich verkürzt, was einem gestiegenen Aufnahmedruck und einer Zunahme an Krisenbehandlungen geschuldet sein dürfte (Kölch et al., 2023). Dies muss jedoch auch in Bezug zu den eingangs genannten Faktoren auf Landesebene analysiert und geplant werden. Es bestehen deutliche regionale Nachbesserungsbedarfe.
Was dem System auch insbesondere in den Regelungen der PPP-RL fehlt, ist eine Flexibilität in der Versorgung, da die Regelungen der PPP-RL zum Nachweis des Personals viel zu starr und stationsbezogen sind, so dass ein flexibles Reagieren auf temporäre Mehrbedarfe erschwert wird.

Es drohen Versorgungsengpässe
Angesichts des sich akut verschärfenden interdisziplinären Personalmangels und der gleichzeitig pandemiebedingt erhöhten Inanspruchnahme durch Patient:innen mit längerfristigem Versorgungsbedarf (Kölch et al., 2023) muss den wiederholten Forderungen nach allgemein mehr Bettenkapazitäten in der KJPP insgesamt eine Absage erteilt werden. Bettenmehrungen sind aus Sicht der DGKJP punktuell in wenigen Regionen mit sehr niedriger Bettenmessziffer sinnvoll und realistisch umsetzbar. So hat beispielsweise Baden-Württemberg aktuell eine neue Fachplanung für die Versorgung in der KJPP beschlossen. In manchen Regionen hat der Personalmangel im ärztlichen oder pflegerischen Bereich sogar zu Stations- oder Klinikschließungen geführt. Solange die Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie nicht fest in der Lehre als AO-Fach verankert wird auch im Rahmen der Reform der ApprO, wird sich auch die Zahl der Ärzt:innen, die im Fach KJPP einen Weiterbildung anstreben, wenig ändern. Vielmehr müssen nun dringend Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um die Versorgung von Kindern mit schweren psychischen Erkrankungen sicherzustellen. In dieser Hinsicht besteht in verschiedenen Bereichen dringender Reformbedarf, und neben einem punktuellen Ausbau bietet sich ein „Umbau“ in stationsäquivalente oder ambulant intensive Behandlungsformen an, unter besonderer Berücksichtigung eines sektorübergreifenden Vorgehens

Vollständige Personalrefinanzierung
Der Anteil der Personalkosten in der stationären KJPP liegt bei mind. 80% der Kosten, während der Sachkostenanteil gering bleibt. Die Ausfinanzierung des für die Behandlung von Kindern mit psychischen Erkrankungen notwendigen, qualifizierten Personals durch die Kostenträger ist daher zentral für den Erhalt der Versorgungsstrukturen. Es kann nicht einerseits ein Mindeststandard für Personal als Voraussetzung durch die PPP-RL definiert werden und andererseits das geforderte Personal nicht ausfinanziert werden. Derzeit klagen die Kostenträger gegen mehrere diesbezügliche Schiedsstellenurteile.
Ohne vollumfängliche Gegenfinanzierung durch die Kostenträger (z.B. bei Tarifsteigerungen), der Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten wie z.B. auch bei Nachtdiensten, Bereitschaftsdiensten, Ausbildungskosten etc. wird eine Vorhaltung für die Versorgung z.B. von Notfällen verunmöglicht und die Träger in ein unlösbares Dilemma gebracht. Hier besteht der dringendste Bedarf von normativen Vorgaben.

PPP-RL ist kein Budgetfindungsinstrument
Die PPP-RL definiert Vorgaben für die zwingend erforderlichen Untergrenzen in der Personalausstattung. Sie ist explizit kein Personalbemessungsinstrument, wird jedoch systematisch missverstanden und zweckentfremdet als Finanzierungsgrundlage. Die psychiatrischen Fachgesellschaften haben daher ein Personalbemessungsinstrument entwickelt, das derzeit in einer Studie des G-BA Innovationsfonds evaluiert wird (EPPIK-Studie). Ein Aussetzen der Sanktionen bei Nichterfüllung der PPP RL sehen wir jedoch sehr kritisch, da dies für Krankenhausträger einen Anreiz darstellen könnte, entsprechendes Personal nicht vorzuhalten.

Psychiatrische Institutsambulanzen stärken
Psychiatrische Institutsambulanzen nach §118 SGB V nehmen eine wichtige Rolle in der Vermeidung oder Verkürzung von stationären Aufenthalten wahr, sie können auch die für die Patient:innen wichtige Behandlungskontinuität sichern. Sie können als Schlüssel für die Versorgungssteuerung bei Patient:innen dienen. Sie sind elementarer Bestandteil eines wie oben beschriebenen flexiblen Systems, das auch auf Mehrbedarfe reagieren kann und auch aufsuchende Behandlung ermöglichen könnte. Hier besteht aber dringender Reformbedarf. Die Möglichkeiten zur Patientenversorgung sind infolge unterschiedlicher Vergütungssysteme je nach Bundesland äußerst heterogen. Aufsuchende Behandlung ist z.B. nur bei entsprechenden Systemen wie dem sogenannten „bayerischen Modell“ ansatzweise möglich. Des Weiteren bestehen (historisch bedingte) Leistungsausschlüsse, die fachlich nicht mehr gerechtfertigt sind, wie z.B. eine parallele Richtlinienpsychotherapie, keine regelhafte Möglichkeit von Videosprechstunden oder e-Health Angeboten etc. Die Auswertung der PIA-Dokumentationsrichtlinie steht seit Jahren aus. Gleiche Versorgungsmöglichkeiten in der PIA in allen Bundesländern zu erhalten, wäre aber für Patient:innen und ihre Familien bundesweit essentiell. Neben der regional ungleichen Finanzierung sind Bau und Instandhaltungskosten von Räumlichkeiten der PIA bisher gar nicht vorgesehen, bzw. überhaupt nicht finanziert. Zudem müssen bundesweit Möglichkeiten für aufsuchende Behandlungsformen geschaffen werden, die eine Brücke zum Ausbau stationsäquivalenter Behandlungen schaffen. Um stationäre Bedarfe im ambulanten Setting effektiv erfüllen zu können und den Prozess der Ambulantisierung über das bereits erfolgte Maß hinaus weiter zu entwickeln, stellen Institutsambulanzen unverzichtbare und zentrale Strukturen dar, die es weiter zu entwickeln gilt.


Im Folgenden nehmen wir zu den von der Regierungskommission adressierten Punkte des Reformvorhabens im Detail Stellung:

1. Einteilung der Krankenhäuser in Level I bis III
Kinder- und jugendpsychiatrische Abteilungen werden von den Bundesländern nach eigenen Vorgaben in teils sehr großen Versorgungsgebieten geplant. Sie sind an den unterschiedlichsten Standorten repräsentiert: alleinstehende Tageskliniken, alleinstehende Fachkliniken, Abteilungen an Fachkrankenhäusern (Kinder- und Jugendmedizin, (Erwachsenen-)Psychiatrie), an Allgemeinkrankenhäusern und an Universitätskliniken. Perspektivisch könnte aber die Bewegung, die innerhalb der Häuser durch die geplanten Reformen entstehen wird, dazu führen, dass Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an einem Level-I-Krankenhaus zu liegen kommen. Objektiv bedarf unser Fachgebiet einer logistischen Anbindung, aber keiner unmittelbaren Nähe zu einem Krankenhaus eines höheren Levels.

2. Zuweisung von Krankenhäusern zu spezifischer definierten Leistungsgruppen
Eine Klinik für KJPP mit Pflichtversorgung kann definitiv nicht in die vorgeschlagenen Leistungsgruppen aufgeteilt werden. Die derzeit gültigen Vorgaben der PPP-RL differenzieren in Regel- und Intensivbehandlung, wobei die Intensivbehandlung im Verlauf stets in eine Regelbehandlung übergeht. Beides muss in personeller Kontinuität möglich sein. Weiterhin hat die Wohnortnähe der Versorgung absoluten Vorrang angesichts der Notwendigkeit des therapeutischen Einbezugs von Familie und Umfeld. Die ambulante sowie (teil-)stationäre Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen in der KJPP erfolgt mit wenigen Ausnahmen ohne Spezialisierungen und Fokussierungen auf spezifische Störungsbilder, auch weil die Entwicklungstrajektorien früher psychischer Morbidität regelhaft mit komorbiden Verläufen einhergehen. Insofern wäre eine strenge thematische Aufteilung des Faches in Leistungsgruppen für die Versorgungsqualität abträglich und entspräche im Übrigen auch nicht der Tatsache, dass stationär behandelte Patient:innen sehr häufig komorbid mehrere Störungsbilder aufweisen.
Auch für besondere Gruppen, wie Patient:innen mit Intelligenzminderung oder Patient:innen mit Suchtstörungen eignen sich keine eigenen Leistungsgruppen. Hier ist zwischen allgemeiner Versorgung, die auch regional erfolgen muss und spezialisierten Einrichtungen zu unterscheiden, die aufgrund der besonderen Aufwände vornehmlich im personellen Bereich eine entsprechende Personalbemessung benötigen. Eine Leistungsgruppe erbringt keine Verbesserung per se in diesen Fällen. Die Krankenhausplanung in NRW hat nicht ohne Grund auf differenziertere Leistungsgruppen im Bereich KJPP verzichtet.

3. Teil-Finanzierung von Krankenhäusern über leistungsunabhängige Vorhaltebudgets
Die Frage nach Vorhaltebudgets in der KJPP muss differenziert betrachtet werden. Die PPP-RL macht Mindestvorgaben für die (teil-)stationäre Regel- und Intensivversorgung zu den Kernarbeitszeiten. In der Logik des PEPP-Systems wurden in die Kosten der PEPP auch Vorhaltekosten durch das InEK eingerechnet, und weitere strukturelle Vorhaltekosten über das Basisentgelt auf lokaler Ebene in den Budgetverhandlungen mit den Kostenträgern verhandelt (siehe oben). In der Notfallversorgung gilt es Bereitschaftsdienste und eine 24-stündige Aufnahmebereitschaft sicherzustellen, welches aktuell mit den Verhandlungspartnern vor Ort gesondert zu verhandeln ist. Abschläge sind vorgesehen, wenn ein Krankenhaus nicht an der Pflichtversorgung teilnimmt. Mit Ausnahme zweier universitärer Abteilungen und einiger Kliniken, die nicht in den Landesbettenplänen als Versorgungskliniken definiert sind, nehmen nahezu alle KJPP-Abteilungen und Kliniken in Deutschland an der Pflichtversorgung teil.
Diese dezentrale Verhandlungspraxis ist in einigen Regionen zwar noch tragfähig, jedoch zeigt sich, dass in Kliniken mit hoher Notfallbelastung (tags und nachts) und der Notwendigkeit für nächtliche Präsenzdienste erhebliche Lücken in der regulären stationären Versorgung tagsüber durch den resultierenden Freizeitausgleich gerissen werden. Dies führt zu einer Qualitätseinschränkung der Versorgung und zur kontinuierlichen Gefahr der Unterschreitung der PPP-RL-Vorgaben. Leistungsunabhängige Vorhaltebudgets können an dieser Stelle die Versorgung und die Versorgungsqualität sichern. Ganz abgesehen davon können entsprechende tarifrechtliche Regelungen in der Zukunft z.B. bezogen auf die Arbeitszeiten der Ärzt:innen eine Sicherstellung ärztlicher Bereitschafts- oder Anwesenheitsdienste aus dem Fachgebiet heraus erschweren oder verunmöglichen, was zu komplexen Dienstsystemen unter Einbezug anderer Fachgebiete bei gleichzeitiger Sicherstellung des Facharztstandards führen kann.
Es mangelt jedoch an einer bundesweit einheitlichen Definition der regionalen Pflichtversorgung. Die vom G-BA für die Datenerhebung gewählte Beschreibung (geschlossene Stationen, geschlossene Bereiche, 24-Std-Bereitschaftsdienst, gesetzlich und landesrechtlich untergebrachte Patient:innen) lehnen wir als ungeeignet ab. Durch die Verknüpfung von Freiheitsentzug und ökonomischen Mehrleistungen werden Fehlanreize geschaffen, die dem Ziel der Reduktion von Freiheitsentzug im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention widersprechen. Vermeidung von Zwang und moderne „fakultativ geschlossene“ Versorgungskonzepte würden strukturell benachteiligt werden zu Lasten der jungen Patient:innen.

4. Flexible teilstationäre Belegung vollstationärer Betten
Bundesweit wird bereits etwa die Hälfte der Behandlungskapazität teilstationär erbracht. Eine Flexibilisierung der vollstationären Behandlung und Nutzung der Angebote für die anderen Versorgungsformen wie stationsäquivalent und teilstationär ist für Gruppentherapien und Fachtherapien bereits üblich, und wurde auch in die PPP-RL aufgenommen (eine Behandlung teilstationär solle auf der gleichen Station möglich sein). Dennoch geht die PPP-RL von einer „Station“ als einer „räumlich und organisatorisch abgegrenzten Einheit“ mit fest zugeordnetem Personal und einer festen Patientenzahl nach festgelegten Kategorien aus. Das Konzept gehört breiter flexibilisiert als nur für teilstationäre Patient:innen. Stationsäquivalente und ambulante Patient:innen sollten ebenso einbeziehbar sein, und Patient:innen in der Entlassphase sollten – sofern die Klinik wohnortnah liegt – jederzeit teilstationär oder stationsäquivalent oder auch ambulant geführt werden können. Dabei wäre noch die Frage des Besuches der Schule für Kranke zu klären, die aber nicht der Bundesgesetzgebung, sondern den Kultusministerien der Länder zugeordnet ist. Für Fälle mit weiter geltender Krankenhaus-Behandlungsindikation kann für die weitere soziale Stabilisierung der fortlaufende Besuch der Schule für Kranke konstituierend sein.

5. Modellprojekte mit Regionalbudget oder sektorenübergreifenden Quartalspauschalen
Ein Regionalbudget unter Fallenlassen aller anderen strukturellen Zwänge halten wir für ein perspektivisch sehr sinnvolles und attraktives Modell. Es vereint die Vorteile des Übergangs von „Betten“ zu „Fällen“ durch die „Capitation“ der Vergütung und zwingt von der Anlage her dazu, möglichst ambulante, auch ambulant-aufsuchende Behandlung anzubieten. Des Weiteren lässt sich in einem solchen Modell ein personenzentrierter Ansatz mit einer auf die Bedarfe der jeweiligen Patient:innen und ihrer Familien zugeschnittenen Versorgung am besten verwirklichen. Es muss aber alle Krankenkassen umfassen, sonst ist es für die vergleichsweise kleinen KJPP-Einheiten nicht machbar. Modellvorhaben nach § 64b SGBV für die Kinder- und Jugendpsychiatrie sind infolge des gesetzgeberisch ausgebliebenen Kontrahierungszwanges für alle Krankenversicherungen leider nicht repräsentativ entstanden. Eine sektorenübergreifende Versorgung müsste für eine flächendeckende Erreichbarkeit unserer Patient:innen infolge der sehr großen Einzugsgebiete der Krankenhäuser unter Einbeziehung der – meist als sozialpsychiatrische Praxen geführten – niedergelassenen Ärzt:innen und der Psychotherapeut:innen gleichzeitig erfolgen können. Allerdings werden die Sektorengrenzen derzeit durch nicht sinnvolle Leistungsausschlüsse sogar zementiert (z.B. zwischen Behandlung nach der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung und parallel psychiatrischer Institutsambulanz). Wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung entsprechender Strukturen ist die Weiterentwicklung der Institutsambulanzen im Sinne eines intensivambulanten Settings zur Reduktion und Verkürzung stationärer Behandlungen (s.o.). So kann in der Perspektive ein bedarfsgerechter stepped-care Ansatz geschaffen werden.

Zusammenfassend…

… sind die Voraussetzungen in der KJPP gegenüber somatischen Fächern grundlegend anders. Weder bestehen Anreize zu nicht bedarfsgerechter Leistungsausweitung, noch besteht Überversorgung.

… ist eine Übertragung des vorgestellten Level-Systems auf die KJPP nicht möglich. Die Entgeltlogik des PEPP ist grundsätzlich anders als das DRG System. Wir sehen keinen raschen Handlungsbedarf hinsichtlich einer kompletten Umstellung der Finanzierung.

…ist die Zuteilung in Leistungsgruppen für die KJPP fachlich nicht sinnvoll und nicht praktikabel.

… sind einzelne Elemente der Reformvorhaben wie Regionalbudgets oder leistungsunabhängige Grundfinanzierungen mit Modifikationen für die KJPP denkbar und interessante Entwicklungsoptionen.

… muss KJPP-Versorgung zwingend wohnortnah und sektorübergreifend erfolgen. Der Trend zur Zentralisierung kann in der KJPP nicht mitgegangen werden.

… möchten wir ausdrücklich vor „Schnellschüssen“ warnen, wenngleich Reformbedarf besteht.


Der Reformbedarf zeigt sich insbesondere in folgenden Bereichen:

  • Die unflexible PPP-RL muss durch eine patientenorientierte Personalbemessung und Krankenhausfinanzierung (wie z.B. das Plattformmodell) ersetzt werden.
  • Die „Regionale Pflichtversorgung“ benötigt eine bundesweit einheitliche fachgebietsspezifische Definition.
  • Eine Ambulantisierung stationärer Behandlungen und Sicherstellung der Versorgung bei fehlenden Personalkapazitäten ist nur durch eine Reform der Finanzierung von Psychiatrischen Institutsambulanzen erreichbar.
  • Der Widerstand der Kostenträger gegen die Stationsäquivalente Behandlung sollte unterbunden und die Rahmenbedingungen der Stationsäquivalenten Behandlung so gefördert werden, dass eine weitere Verbreitung möglich ist. Auch bedarf es eines „Zwischenschritts“ zwischen stationsäquivalent und ambulant.
  • Eine neue Phase von Modellprojekten ohne Kontrahierungszwang ist zu vermeiden. Erfolgreiche Modelle müssen in der Fläche implementierbar werden.
  • Es gibt umfangreiche Vorarbeiten unter Förderung des BMG mit priorisierten Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Versorgung für psychisch kranke Minderjährige
    (vgl. Handlungsempfehlungen der Aktion Psychisch Kranke).


Für Rückfragen stehen wir jederzeit gerne zur Verfügung.


Mit freundlichen Grüßen

Für die DGKJP

Prof. Marcel Romanos 

Prof. Michael Kölch 

Prof. Renate Schepker

Für die BAG KJPP

Dr. Martin Jung

Dr. Marianne Klein

Um die Gesundheit der Menschen zu schützen, haben 200 Gesundheitsorganisationen aus aller Welt, darunter der Weltärztebund und die WHO, von den Regierungen einen rechtlich verbindlichen, globalen Vertrag für den Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe (Fossil Fuel Non-Proliferation Treaty) gefordert.
Der vorgesehene Vertrag soll drei Elemente enthalten:
1. Stopp jeder neuen Erschließung und Produktion von Kohle, Öl und Gas
2. Ausstieg aus bestehenden Vorräten und der Produktion von fossilen Brennstoffen in Übereinstimmung mit dem globalen Klimaziel von 1,5 °C
3. Gewährleistung eines gerechten Übergangs bei der Umstellung.

Die DGKJP hat den Aufruf dieser globalen Initiative zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen mitunterzeichnet.

Positionspapier der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und der Fachverbände (DGKJP, BAG KJPP, BKJPP) zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz

Dieses Papier ist eine Positionierung der aktuellen Vorstände von BAG KJPP, BKJPP und DGKJP im Rahmen der Debatten um ein neues Selbstbestimmungsgesetz. Es ist keine öffentliche Stellungnahme im engeren Sinn. Das Papier soll insbesondere den Mitgliedern einen Anhalt geben, wie sich die wissenschaftliche Fachgesellschaft und die Fachverbände in der gesellschaftlichen Debatte positionieren.

Im jetzigen Eckpunktepapier der Koalitionsparteien werden Regelungen vorgelegt, die Änderungen im Personenstandsregister vorsehen. Demnach ist ab dem 14. Lebensjahr die Zustimmung der Sorgeberechtigten zwingend. Auf eine ergebnisoffene Beratung vor der Entscheidung bei entsprechenden, auszubauenden Stellen sollen Minderjährige und Sorgeberechtigte aktiv hingewiesen werden. Bei einem Dissens zwischen Sorgeberechtigten und Kind/Jugendlichen muss letztendlich eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung des Familiengerichts erfolgen. Generell soll gelten, dass eine erfolgte Personenstandsänderung mindestens 12 Monate weiter bestehen muss. Sie ist nicht kurzfristig wieder rückgängig zu machen. Des Weiteren wird die Änderung für den bzw. die Betroffene:n kostenpflichtig sein.

Der DGKJP, der BAG KJPP und dem BKJPP ist es wichtig, dass mögliche gesetzliche Regelungen keinen Automatismus bezüglich einer Medikationsgabe (incl. Pubertätsblocker) oder operativer Maßnahmen vorsehen. Gerade auf Grund der komplexen und umfassenden Entwicklung von Jugendlichen, die nicht bis zum 18. Lebensjahr abgeschlossen ist, hätte der Vorstand in einer allzu weit reichenden Regelung ein Problem gesehen. Regelungen, die ein altersunabhängiges Recht auf Medikation oder operative Maßnahmen gleichzeitig mit einer sozialen Transition enthalten hätten, wären aus Sicht der wissenschaftlichen Fachgesellschaft und der Fachverbände abzulehnen. Jeglicher Zugang zu somato-medizinischer Behandlung bedarf einer sorgfältigen leitliniengerechten medizinischen Indikationsstellung. Bei Minderjährigen unterliegt dies einer besonderen ethischen Verantwortung aufgrund des Irreversibilitätsdilemma bei frühem, ebenso wie bei spätem Beginn einer Behandlung. Das Eckpunktepapier lässt solche „Automatismen“ nicht erkennen.
Die Indikationen für medizinische Interventionen müssen weiterhin individuell gestellt werden nach der aktuellen Evidenzlage. Unter Federführung der DGKJP wird derzeit eine AWMF S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter erarbeitet. Diese Leitlinie wird Handlungsempfehlungen zur Diagnostik und Therapie basieren auf dem zum jetzigen Zeitpunkt höchsten wissenschaftlichen Evidenzgrad. Klinisch wird weiterhin die Unterstützung des familiären Umfeldes bei einer entsprechenden Problematik eines Jugendlichen wichtig sein. Eine abstrakte Orientierung am Kindeswohl in komplizierten Fällen, die ggfs. das Recht des Kindes gegen die eigenen Eltern durchsetzt, wird der Entwicklung des Jugendlichen und einer Familie nicht helfen, wenn dies zum Verlust der familiären Bindungen führt. Hier wird neben rechtlichen Aspekten auch die professionelle kinder- und jugendpsychiatrische und –psychotherapeutische Prozessbegleitung des gesamten Familiensystems im Vordergrund stehen müssen. Nur so wird auch in konfliktären Situationen in Familien sowohl dem Art. 6 GG, wie auch dem §1626(2) Genüge getan werden können.

Die Vorstände von DGKJP, BAG KJPP und BKJPP sehen in der skizzierten Regelung einen Kompromiss, der aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht vertretbar ist. Alle weiteren Maßnahmen sollten dem bei Jugendlichen besonders aufwändig und sorgfältig zu gestaltenden diagnostischen und oft auch therapeutischen Prozess mit ergebnisoffenem Ausgang zwischen den behandelnden Ärzten und Therapeuten, Jugendlichen und ihren Familien vorbehalten bleiben.

Generell gehört es bei vielen Thematiken (wie einem Coming-Out von Homosexualität oder Fragen der ethnischen oder sozialen und familiären Zugehörigkeiten) zum therapeutischen Alltag in unserem Fachgebiet, dass Patient:innen eine Realitätstestung zu empfehlen ist. Bereits jetzt ist es so, dass Kinder und Jugendliche auch ohne Änderung des gesetzlichen Personenstandes sich im Zuge einer sozialen Transition im öffentlichen Raum erproben können. Dabei ist es wichtig, dass von öffentlichen Erziehungsinstitutionen (Kindergärten, Schulen) keine Diskrimination erfolgt. Wir begrüßen, dass durch die Möglichkeit der Personenstandsänderung bei unter 18jährigen zunächst in einer sozialen Transition Rollensicherheit und -klarheit von Jugendlichen und ihrer sozialen Umgebung entwickelt und eine neue Identität erprobt werden kann. Der Vorstand ordnet die im Eckpunktepapier vorgesehene Regelung unter dieser Perspektive ein. Auf Grund der möglichen Reversibilität der Personenstandsänderung sieht der Vorstand hier weder eine drohende Vorfestlegung, noch eine weitreichende Gefahr für Jugendliche. Des Weiteren wird abzuwarten sein, in welchem Umfang z.B. Patient:innen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie von der so eröffneten Möglichkeit überhaupt Gebrauch machen wollen.

Gleichwohl fordern die Vorstände ein entsprechendes Monitoring und epidemiologische Forschung zu Auswirkungen und Veränderungen, die der geplanten Gesetzesänderung folgen können. Diese wird unserer fachlichen Beratung bedürfen und aus Routinedaten nicht zu generieren sein.

Berlin/Schleswig/Mainz, September 2022

Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) für die geplante Cannabis-Abgabe an Erwachsene: Prävention und Jugendschutz als Handlungsmaxime – ausreichende Behandlungskapazität und Monitoring als Handlungsnotwendigkeit

Die Kinder- und Jugendpsychiater:innen und -psychotherapeut:innen und die Kinder- und Jugendärzt:innen in Deutschland haben in einem gemeinsamen Statement der Fachgesellschaften und Verbände vor den möglichen Risiken einer Cannabislegalisierung gewarnt und appelliert, etwaige Legalisierungsbestrebungen nicht auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen auszutragen. Alle Vorsätze, die Legalisierung mit einem bestmöglichen Jugendschutz zu verbinden, haben sich in vielen Legalisierungsländern als Illusion erwiesen. An diesem Appell hält die DGKJP auch in Anbetracht der folgenden Empfehlungen zur Definition der Altersgrenze für eine Cannabis-Abgabe an Erwachsene, zu notwendigen Verbesserungen in der Behandlung und Rehabilitation riskant Cannabis konsumierender und cannabisabhängiger Kinder und Jugendlicher sowie des zugehörigen Monitorings fest.

1. Die DGKJP empfiehlt, bei der geplanten Cannabis-Abgabe an Erwachsene die untere Altersgrenze auf 21 Jahre und idealerweise auf 25 Jahre festzulegen.

Begründung:
a) Das Gehirn ist aufgrund der bis zum Alter von 25 Jahren stattfindenden Reifungsprozesse hochgradig vulnerabel. Eine Altersgrenze bei 25 Jahren stellt die Fürsorgefunktion des Staates in den Vordergrund und setzt ein deutliches Signal für den Schutz vor Gesundheitsgefahren junger Menschen durch Drogengebrauch.
b) Je später der Einstieg in regelmäßige Konsummuster erfolgt, umso geringer ist die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung mitsamt deren psychischen, somatischen und sozialen Langzeitfolgen (siehe DGKJP et al. 2022).
c) Die Risikowahrnehmung junger Menschen dürfte angesichts einer Altersgrenze für die Cannabis-Abgabe bei 25 Jahren und eines begründeten gesetzlichen Verbots der Weitergabe legal erworbener Produkte an Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren adäquat hoch bleiben. Die Risikowahrnehmung nahm in den USA nach Berichten der UN im Zusammenhang mit deutlich niedrigeren Altersgrenzen für die Cannabisabgabe stark ab. Der Anteil der Jugendlichen, die Cannabis als schädlich empfinden sank in den USA um 40 Prozent (UNODC 2022). In den USA liegt in den 19 Bundesstaaten, die Cannabis legalisiert haben, die untere Altersgrenze bei 21 Jahren (https://marijuana.procon.org/legal-recreational-marijuana-states-and-dc/); in Kanada liegt sie bei 19 Jahren.
d) Jugendgerichte sind auch für Heranwachsende bis zum Alter von 21 Jahren zuständig und verurteilen bei Entwicklungsverzögerungen unabhängig vom Delikt nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG). Nachweislich sind Therapieauflagen gemäß § 10 JGG (die dann auch von der Jugendgerichtshilfe begleitet werden können) ein wirksames Mittel zur Förderung der Therapieadhärenz im Falle einer notwendigen Behandlung und Rehabilitation. Auch bei erwachsenen Betroffenen erfolgen – trotz höherer statistischer Risiken und Benachteiligungen – seltener Abbrüche durch die Betroffenen mit Therapieauflage. Bei jugendlichen PatientInnen wird durch Therapieauflagen eine längere Rehabilitationsbehandlung erreicht und die Behandlung öfter wieder aufgenommen als bei PatientInnen ohne diese Auflagen (Künzel et al. 2012; Nützel et al 2012)
e) Einzelne Jugend-Suchtschwerpunkte in Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (z.B. am ZfP Südwürttemberg, pers. Mitteilung) haben mit den Krankenversicherungen aus o.g. Gründen vereinbart, bei vorliegenden Entwicklungsrückständen die von Suchtmitteln abhängigen und abhängigkeitsgefährdeten 18- bis 21-Jährigen behandeln zu dürfen. Dieses ist auch im OPS 9-694 entsprechend festgelegt worden und gilt generell ebenso für die niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater:innen. Seitens des stationären Segments wird diese Möglichkeit aber nur selten (bei Wiederaufnahmen) wahrgenommen, da die Kapazitäten derzeit bereits für die unter 18-jährgen PatientInnen nicht ausreichen.

2. Sollten politische Entscheidungen dazu führen, die untere Altersgrenze für eine Cannabisabgabe an Erwachsene auf 18 Jahre zu legen, sind aus Sicht der DGKJP folgende Empfehlungen unabdingbar:

a) Bis zum Alter von 25 Jahren muss sich die Abgabe in den Verkaufsstellen auf niedrig dosierte THC-Produkte beschränken und eine Begrenzung der Abgabemenge pro Woche berücksichtigen, so dass idealiter jeder junge Volljährige nur für den Eigenbedarf einkauft. Nachweislich fördern höhere Konzentrationen und häufigerer Konsum u. a. die Gefahr von Entwicklungsstörungen des Gehirns sowie psychotischer Erkrankungen bei prädisponierten jungen Menschen (siehe DGKJP et al. 2022).
b) Die DGKJP empfiehlt die Einführung eines „THC-Führerscheins“. Derartige verpflichtende Beratungen sind auch in anderen Kontexten geregelt, bzw. will der Gesetzgeber z.B. bei der Frage der Personenstandsänderung bei Minderjährigen die verpflichtende Beratung einführen. Da diese Altersgruppe sehr selten regelhaft in medizinischer Behandlung ist, besteht die Gefahr einer unerkannten Abhängigkeitsentwicklung. Eine regelhafte Vorsorgeuntersuchung (ähnlich wie z.B. betriebsärztliche Untersuchungen) einschließlich fachkundiger Beratung könnte zumindest einen Teil der jungen Erwachsenen mit einem beginnenden riskanten Konsum oder psychischer Komorbidität (inkl. psychotischer Frühsymptome) identifizieren und zur Drogenabstinenz motivieren. Im Rahmen der Fachberatung sollten die folgenden Inhalte thematisiert werden: Kombination des Cannabiskonsums mit anderen legalen oder illegalen Drogen und Arzneimitteln und der daraus resultierenden Gefahren, Gefahren des Konsums von Schwarzmarktprodukten, Aufklärung über das Verbot der Weitergabe sowie der Sanktionen bei Konsum im Straßenverkehr bzw. der Gefahren des Fahrens unter THC-Einfluss, Aufklärung über die Gefahren des Konsums in der Schwangerschaft, Aufklärung über die Wirkdauer je nach Konsumform und der möglichen Langzeitauswirkungen, Warnhinweis bezüglich der Verwendung von Cannabisprodukten zur persönlichen Problemlösung.
c) Die DGKJP empfiehlt die Einführung einer „Bewährungszeit“ in Analogie zum Kfz-Führerschein, verpflichtender Beratung und deren Überprüfung (siehe Projekt der indizierten Prävention FRED) bei Verstößen gegen das Weitergabeverbot sowie nach Drogennotfällen; möglicher Entzug der Einkaufslizenz bzw. des THC-Führerscheins als Konsequenz bei wiederholter Zuwiderhandlung und Fremdgefährdung; Therapieauflagen bei Komplikationen.
d) Die DGKJP empfiehlt die Sicherstellung einer ausreichenden Anzahl an Behandlungsplätzen für diejenigen KonsumentInnen, die trotz dieser Maßnahmen intensive Konsummuster und eine Cannabisabhängigkeit mit psychischen, körperlichen und sozialen Folgeschäden entwickeln – sowohl im akutpsychiatrischen als auch im Reha-Bereich (detaillierte Ausführungen zur Ausgestaltung siehe 3.).
e) Die DGKJP empfiehlt die Schaffung spezialisierter Jugend-Suchtberatungsstellen, mindestens aber Qualifizierung der Beratungsstellen für den Umgang mit jungen Menschen in empfohlener und verpflichtender Beratung; aufsuchende Beratung am Intensivbett bei Drogennotfällen; Qualifikation für den Einbezug der Aufenthalts- bzw. Herkunftsfamilien in die Beratung.
f) Es müssen die wirksame Kontrolle und Sanktionierung des Verbots der Weitergabe an Minderjährige sowie weitere adäquate Maßnahmen des Jugendschutzes sichergestellt werden.
g) Es muss ein vollständiges Werbeverbot für THC-Produkte in Medien, Kanälen und Einrichtungen, die junge Erwachsene gern zum Feiern besuchen, umgesetzt werden.
h) Geregelte Öffnungszeiten der Abgabestellen sollen ein „Nachladen“ erschweren.

3. In der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung sowie der medizinischen Rehabilitation müssen für behandlungsbedürftige junge Cannabiskonsumierende aus Sicht der DGKJP erhebliche Verbesserungen umgesetzt werden.


Im Einzelnen handelt es sich um die im Folgenden genannten Maßnahmen:

a) Schaffung ausreichender, spezialisierter Behandlungsplätze mit speziellem therapeutischem Milieu und Konzept in jedem Bundesland (in OPS bereits für die Auslösung des Kodes 9-694 entsprechend festgelegt) mit Qualifikation für die Behandlung der häufigen Komorbidität und integrierter Beschulungsmöglichkeit durch eine Schule für Kranke (nicht in allen Bundesländern vorhanden, jedoch aufgrund häufiger Schulabbrüche und der Notwendigkeit einer Reintegration in das Bildungswesen erforderlich). Konkrete Empfehlungen dazu siehe auch Leitlinie Qualifizierte Entzugsbehandlung für Kinder und Jugendliche der Suchtkommission der DGKJP (Thomasius et al. 2016).
b) Festlegung, dass bereits ein schädlicher Cannabisgebrauch (ICD 10: F12.1) bei psychiatrischer Komorbidität eine Aufnahmeindikation darstellt (wird teilweise seitens der Medizinischen Dienste bestritten). Ermöglichung mehrerer Behandlungsanläufe und -abbrüche (jugendtypische Muster).
c) Verbesserung der Zuweisungsbedingungen im Vorfeld durch Stärkung der Suchtkompetenz (Schulungen) der MitarbeiterInnen in Jugendhilfeeinrichtungen, Schulen sowie Kinderarzt- und Primärarztpraxen; verbindliche Vorstellung der PatientInnen nach Drogennotfällen in Suchtberatungsstellen durch Vermittlung der Intensivstationen in Pädiatrie und internistischer Intensivmedizin mittels aufsuchender Suchtberater:innen am Krankenbett (vgl. Projekt HaLT); Überlegungen zu einer diesbezüglichen Definition von „Kindeswohlgefährdung“ gegenüber dem Jugendamt ab der zweiten erforderlichen Behandlung aufgrund einer Intoxikation.
d) Integration der Jugendlichen, bei denen eine Rehabilitationsbehandlung indiziert ist (etwa 10-20% der auf Akutstationen behandelten Jugendlichen, siehe Reha-Statement der Gemeinsamen Suchtkommission der KJPP-Fachverbände und DGKJP, Holtmann et al. 2016) in das Leistungsspektrum der DRV, auch wenn keine eigenen Versicherungszeiten vorliegen. Ziel der Reha-Behandlung ist die Herstellung der späteren Arbeitsfähigkeit. Festlegung eines Rehabilitations-Satzes, der die nötige Personalkapazität für Weiterbehandlung der Komorbiditäten, Aufsichtspflicht, pädagogische Tagesstrukturierung, Spektrum alternativer Freizeitgestaltung anbieten kann; Festlegung einer Gruppengröße analog zu den Festlegungen für Jugendhilfeeinrichtungen; Kinderschutzkonzept. Anschluss an ein Angebot für Schulunterricht, das mindestens einen Hauptschulabschluss ermöglicht (Schule für Kranke oder SBBZ emotionale Entwicklung) und Berufsvorbereitung. Ermöglichung des Einbezugs der Herkunftsfamilien mit Fahrkostenerstattung (Familientherapie, Familienseminare). Verbindliches Entlassmanagement (mit Überleitung in Suchtberatung, Jugendhilfe, Schule, Berufsvorbereitung, Ausbildung etc.) und eingeplanten Belastungserprobungen im Herkunftsmilieu. Auch in diesen Fällen müssen mehrere Anläufe und Abbrüche der Behandlung eingeräumt werden.

4. Prävention ausbauen, neugestalten und ein umfassendes Suchtpräventionskonzept für Jugendliche und Familien entwickeln und implementieren

Präventive Maßnahmen müssen bei einer Legalisierung von Cannabis deutlich verstärkt werden, um einem Anstieg der Konsumprävalenzen durch eine mutmaßlich steigende Verfügbarkeit der Substanz entgegenzuwirken. Das generelle Präventionsdilemma in Deutschland, dass insbesondere verhaltensbezogene präventive Maßnahmen Risikogruppen nicht in ausreichendem Maße erreichen, muss in diesem Fall aufgrund der besonderen konsumbezogenen Risiken für Heranwachsende exemplarisch überwunden werden. Es müssen „community“-basierte sowie risikogruppenadaptierte und zugleich evidenzbasierte Präventionsmaßnahmen entwickelt, implementiert und monitoriert werden. Dies ist eine kurz-, mittel- und langfristige Aufgabe, die einer kontinuierlichen Evaluation bedarf. Für die Entwicklung, Implementierung und Evaluierung geeigneter Maßnahmen zur Prävention und Frühintervention sind ggfs. finanzielle Mittel aus den Einnahmen der Cannabisabgabe an Erwachsene zu verwenden.
Die geplante regulierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene ist an verschiedener Stelle als „window of opportunity“ für weitere Verbesserungen in der Drogenpolitik benannt worden. Dies gilt neben der Stärkung zielgruppenspezifischer Präventionsangebote sowie verbesserten Maßnahmen zur Umsetzung des Jugendschutzes und weiteren verhältnispräventiven Maßnahmen (s.o. Empfehlungen zu Altersgrenzen, Werbeverboten etc.) ebenso wie für ein verbessertes und empirisch veranlagtes Monitoring der Versorgungslage (Inanspruchnahme, Bedarfsplanung und Versorgungskapazitäten) in Deutschland.
Daher ist aus Sicht der DGKJP zudem erforderlich:

5. Eine epidemiologische Beobachtung problematischer Gebrauchsformen sowie ein Monitoring der in den spezialisierten jugendpsychiatrischen Zentren akutpsychiatrisch behandelten jungen Suchtpatienten muss jetzt eingerichtet werden

Zum Schutz der Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen müssen die Auswirkungen der diskutierten regulatorischen Änderungen im Bereich der Cannabispolitik sorgfältig überwacht werden. Während Konsumtrends psychoaktiver Substanzen auch im Zeitverlauf bei Kindern und Jugendlichen gut abgebildet werden (durch die regelmäßigen querschnittlichen Erhebungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA), gibt es derzeit keine Beobachtungsmöglichkeit im Bereich problematischer Gebrauchsformen und der damit verbundenen gesundheitlichen Probleme und Behandlungsbedarfe für diese Altersgruppe. Eine kontinuierliche Beobachtung und gesundheitspolitische Bewertung der im Abgabe-regulierten Kontext potenziell ansteigenden und veränderten kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsnachfrage ist ohne den Aufbau entsprechender Monitoringsysteme nicht möglich. Die Datenlage zur Verbreitung problematischer Konsumformen sowie die Inanspruchnahme von ambulanter und stationärer Behandlung in der Suchthilfe hinkt bei Kindern und Jugendlichen derjenigen für Erwachsene weit hinterher. Orientierende internationale Studien im Kontext der Cannabislegalisierung liegen für Kinder und Jugendliche zwar vor, sind aber aufgrund oftmals deutlicher Unterschiedlichkeiten in den jeweiligen Versorgungssystemen und Regulationsmodellen nicht direkt bzw. nur sehr bedingt auf hiesige Verhältnisse übertragbar.
Über ein bundesweites Monitoring könnten mögliche Veränderungen (z.B. hinsichtlich des Ausmaßes klinisch relevanter Konsumformen und konsumbezogener Schäden, Behandlungsbedarf, Zuweisungspraxis, Bezugsquellen der Substanzen etc.) infolge veränderter Gesetzgebung besser erkannt und geeignete Maßnahmen zur Minimierung substanzbezogener Probleme geplant werden. Um auf mögliche veränderte Versorgungsbedarfe reagieren zu können und damit einen Schaden für die besonders vulnerable Gruppe der Kinder und Jugendlichen zu verringern, sollten entsprechende Vorhaben daher bereits jetzt bzw. vor Inkrafttreten von gesetzlichen Änderungen gestartet werden.
Die Gemeinsame Suchtkommission der deutschen kinder- und jugendpsychiatrischen Verbände und wissenschaftlichen Fachgesellschaft (BAG KJPP, BKJPP, DGKJP) vertritt die in Deutschland vorhandenen spezialisierten Suchtschwerpunkte in kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Kliniken, in denen die Akutbehandlung von jungen Menschen mit Suchtstörungen sichergestellt wird. Dieses Gremium bietet einen geeigneten Rahmen für die Entwicklung, Umsetzung und fortlaufende Auswertung wirksamer Maßnahmen zum Monitoring cannabisbezogener Entwicklungen in der medizinischen Versorgung.
Eine erste Datengrundlage kann der Datensatz nach §21 KHG bieten, der die Versorgungsdaten aus den Krankenhäusern abbildet. Das InEK ist dem Geschäftsbereich des BMG zugeordnet. Die ambulanten Daten wären über die KV-Abrechnungsdaten ebenfalls verfügbar. Eine entsprechende kontinuierliche Auswertung wäre einzuführen. Ein entsprechender Beirat zur Datenauswertung und -bewertung sollte gebildet werden.

Renate Schepker, Michael Kölch, Nicolas Arnaud, Rainer Thomasius

Berlin, im August 2022

Weiterführende Literatur entnehmen Sie bitte dem PDF.

Stellungnahme der DGKJP zum „Gemeinsamen Bericht über die Auswirkungen der stationsäquivalenten psychiatrischen Behandlung im häuslichen Umfeld auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten einschließlich der finanziellen Auswirkungen gemäß § 115d Absatz 4 SGBV“

Isabel Boege, Renate Schepker, Tobias Renner, Michael Kölch und Vorstand der DGKJP

Laut § 115 d SGB V wurden die Selbstverwaltungspartner Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und GKV-Spitzenverband (GKV) sowie der Verband der Privaten Krankenversicherungen (PKV) verpflichtet, dem Bundesgesundheitsministerium zum 31.12.2021 einen Bericht zu den Auswirkungen der Einführung der neuen Art der Krankenhausversorgung durch stationsäquivalente Behandlung (StäB) vorzulegen. Dieser Bericht wurde nun veröffentlicht.
Er enthält am Schluss eine positive Bewertung seitens der DKG und Kritik bzgl. „Übervergütung“ und „Unterversorgung“ seitens der GKV, sowie deren Forderung, StäB zugunsten einer intensiven PIA-Behandlung in allen Regelungen zu streichen. Sowohl Methodik als auch Schlussfolgerungen können aus Sicht der wissenschaftlichen Fachgesellschaft der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie nicht unwidersprochen bleiben. Ein Bericht mit eklatanten methodischen Mängeln und unbestätigten Vorannahmen – etwa hinsichtlich des Anteils an Pflegepersonal an den je Patient:in aufgewendeten Stunden im vollstationären Bereich – so wie fehlender Rezeption bisheriger Forschungsergebnisse sollte keine Handlungsgrundlage für die Politik werden.

Die Methodik und der Datenbezug des Berichts sind insuffizient
Die Analyse beruht auf Auswertungen des InEK über die Daten des Datenfiles nach § 21 KHEntgG sowie die abgerechneten PEPPs (QK80Z für die KJPP) bzw. hinterlegten OPS-Kodes. Bei der Anzahl der StäB-Krankenhäuser (S.6) wird in Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie nicht differenziert, ebenso wenig bei der StäB-Landkarte (S.7) so dass eine Grundgesamtheit für unser Fachgebiet nicht korrekt auszumachen ist. Dieser Mangel zieht sich durch die Berichtslegung durch.
Wenn etwa der Anteil an StäB-Patienten mit dem Gesamtvolumen der großen Erwachsenenpsychiatrie abgeglichen wird (unfairerweise einschließlich der von den meisten Einrichtungen laut Diagnosestatistik ausgegrenzten Suchtpatienten, die immerhin rund 1/3 der stationären Belegung in Erwachsenenpsychiatrien ausmachen) belaufen sich die StäB Fälle auf 0,3% der Behandlungsfälle/Jahr. Verglichen mit allein einer uns bekannten Einrichtung der KJPP verzerrt das die Daten horrende – hier waren die StäB-Patienten 2018: 4,7%, 2019: 10,03%, und 2020 15,02% aller Fälle.
Auch das Berechnen der StäB Patienten auf die Gesamtheit aller Patienten würde sich durch „Herausrechnen“ kinder- und jugendpsychiatrischer Pioniereinrichtungen stark reduzieren: für den EP Bereich ist ein Verhältnis von 1:324 im Jahr 2020 beschrieben, in einer modellhaften KJPP beträgt es 1:5,64. Das wird im Bericht aus Datenschutzgründen nicht angegeben, obwohl das InEK den Selbstverwaltungspartnern auch (anonymisierte) Daten einzelner Einrichtungen zur Verfügung gestellt hat und die Spannbreite des „Ausrollens“ der StäB Behandlung in der Fläche nur daran gut aufgezeigt werden kann.
Des Weiteren enthält der Bericht keine Ergebnismaße, wie etwa Patientenzufriedenheitsbewertungen, Einschätzungen der Funktionsfähigkeit, Stabilität des Behandlunsgerfolgs über die Zeit oder der noch vorhandenen Symptomschwere bei Entlassung, sondern es werden ausschließlich Leistungen aus den Routinedaten betrachtet. Schlussfolgerungen, welche Patienten nun besonders vom StäB Angebot profitieren sind damit obsolet. Die 60 % Fälle, die eine weitere psychiatrische Krankenhausbehandlung erhalten haben werden weder nach institutsambulant, voll- oder teilstationär differenziert noch nach Erwachsenen oder Kindern und Jugendlichen – selbstverständlich sollte eine StäB-Behandlung ja kurz gehalten werden und eine ambulante Nachbehandlung, idealiter in personeller Kontinuität, zur Stabilisierung angeschlossen werden.
Innerhalb der erhobenen Daten ist ein Vergleich von StäB z.B. mit der vollstationären Behandlung nicht erfolgt – aufgrund der unterschiedlichen Struktur der jeweiligen OPS wäre ein solcher auch nicht hinsichtlich der Leistungen möglich gewesen, aber sehr wohl hinsichtlich der Diagnosen oder der Altersstruktur.
Die kursorisch geschilderten Mängel, die gegenüber der GKV durch den Medizinischen Dienst benannt werden seien, werden im Bericht weder mit Daten belegt noch werden KJPP und EP unterschieden -sie sind deswegen nicht verwertbar.

StäB eignet sich für alle Patient:innengruppen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Die Diagnoseverteilung entspricht dem üblichen stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Spektrum mit vielen F9-Diagnosen und depressiven Störungen, die sich in der Priorisierung der drei untersuchten Jahre abwechseln. Das wird später nicht diskutiert, sondern im Gegenteil seitens der GKV behauptet, StäB eigne sich „nur für eine sehr kleine Patientengruppe“ (S.38).
Die Schlussfolgerung der GKV, „Die meisten krankenhausbehandlungsbedürftigen Patientinnen und Patienten mit einer psychiatrischen Erkrankung profitieren stärker von einer vollstationären Versorgung“ (S.38) ist bereits methodisch nicht zulässig, da nicht mit Daten begründet (s.o.). Die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie erhobenen und publizierten Ergebnisse (auf Wunsch gerne von der DGKJP-Geschäftsstelle zur Verfügung gestellt) belegten eine Gleichwertigkeit der Behandlungsergebnisse und der Symptombelastung mittels Health of the Nation Outcome Scale for Children and Adolescents (HONOSCA), Children global assessment Scale (CGAS), welcher der Achse 6 der MAS in der KJPP entspricht und somit ein relevantes Maß für die psychosoziale Funktionsfähigkeit darstellt, das sich bei allen Patienten deutlich analog einer stationären Behandlung verbesserte und eine Gleichwertigkeit hinsichtlich der Patientenzufriedenheit, welcher auf Elternseite eher noch zugunsten von StäB ausfiel. Die erhaltene Therapie wurde im Vergleich zur vollstationären Behandlung von den Patienten und Eltern als intensiver und zielführender gewertet, da immer ein sehr individuelles Eingehen auf die Patient:innen unter Einbezug des Elternhauses und der Schule stattfindet. Für Familien mit Kindern ist das ein zentrales Behandlungselement. Eltern benannten zu fast 75,6%, dass sie einen eigenen Kompetenzgewinn zu verzeichnen hatten, und somit mit Problematiken zu Hause besser umgehen konnten, die Patient:innen erreichen gut 83,3%. Stationäre Patienten zeigten vergleichbare Werte (73,3%), Eltern von stationären Patienten benannten hingegen nur einen Kompetenzgewinn von 25,7%, was langfristi.g deutlich weniger Stabilität bedeutete und zu Wiederaufnahmen führte.

StäB arbeitet sehr wohl multiprofessionell und mit hohem Aufwand
Aufgezählt und immerhin breit dargestellt wird, dass in der KJPP mit durchgängig mehr Psychologen und Spezialtherapeuten gearbeitet wird. In 55 % (2018) bzw. 75 % (2020) der Fälle waren regelhaft 4 Berufsgruppen in die Behandlung einbezogen. Die Kritik der mangelnden Multiprofessionalität trifft somit die KJPP nicht – in der Erwachsenenpsychiatrie liegen die Anteile des Einbezugs von 4 Berufsgruppen deutlich geringer mit 24-51%. Auch hier wurde nach den vorgelegten Zahlen der Beweis erbracht, dass in der KJPP StäB der vollstationären Behandlung ebenbürtig ist.
Ebenfalls zu wenig gewürdigt wird, dass die KJPP-StäB-Teams hohe Minutenzeiten in den Familien verbracht haben gegenüber vergleichsweise den erwachsenenpsychiatrischen Teams (EP) und dass hier eine gegenläufige Entwicklung zu verzeichnen ist. 2018 zählte die KJPP 2269min vs. EP 1462min, 2019 KJPP 1981min vs. EP: 1824min; 2020 KJPP 2371min vs. EP 2045min. Die StäB-Teams der KJPP bewerten den Abfall der Minutenwerte innerhalb der Familien (2018 87min, 2019 72min, 2020 62min) als einen Ausdruck der Professionalisierung (es hat eine Verschiebung in die Außenkontakte, wie Schulen, von den Familien aus stattgefunden im Sinne der Bedarfe der Kinder). Auch das wird nicht diskutiert. Die Verteilung der geleisteten Minuten zwischen dem Pflege- und Erziehungsdienst (PED) (ca 44-59%) und dem Ärztlichen Dienst (ca 30%) entspricht in der KJPP den auch in der PPP-Richtlinie festgelegten Verhältnis zwischen den Berufsgruppen, sogar mit einem damit verglichen eher hohen Arzt-Minutenanteil, anders als die GKV im Schlussstatement glauben macht.
Die Schlussfolgerung der GKV „Damit bleibt die Versorgung im Rahmen einer StäB, insbesondere hinsichtlich der Intensität sowie der Multiprofessionalität, weit hinter einer vollstationären Behandlung zurück“ (S. 38) ist ebenfalls nicht belegt. Hier hätte ein Vergleich mit vollstationärer 1:1-Betreuung durch den Pflege- und Erziehungsdienst erfolgen müssen, der bekanntlich basierend auf Realkostenkalkulationen des InEK im vollstationären Rahmen bereits ab einer Stunde täglich in der KJPP ein „erhöhendes Tagesentgelt“ generiert. Auch wären für einen Vergleich von erfolgten Einzeltherapiestunden Daten für die Berufsgruppen der Ärzt:innen, Psycholog:innen und Spezialtherapeut:innen aus den OPS generierbar gewesen.
Die implizit vorgetragene Abwertung der Tätigkeiten des Pflege- und Erziehungsdienstes: „Zugleich zeigen die Daten aber auch, dass der Hauptanteil der Leistungen durch Pflegefachpersonen erbracht wurde, auf diese Berufsgruppe entfallen über die Hälfte aller OPS-Kodes“ (S. 38), ist fachlich nicht haltbar. Zunächst kann bereits für den vollstationären Bereich aus den Minutenwerten der PPP-RL je Patient abgeleitet werden, dass die PED-Minutenwerte die der anderen Berufsgruppen um ein Vielfaches überschreiten (in der Kategorie KJ1 i.V. zu Ärzt:innen 7,5:1; i.V. zu Psychotherapeut:innen 10:1, i.V. zu Fachtherapeut:innen und Sozialarbeiter:innen 4,7:1). Auch inhaltlich ist das sinnvoll – der PED ist essentiell in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen, in der es sehr viel um Pädagogik/Alltagstransfer von Therapie und auch um Elternberatung/training geht.

StäB ist in der KJPP unter- und nicht überfinanziert
Bezüglich der Wirtschaftlichkeit ist nicht von einer „Übervergütung“ sondern vielmehr hinsichtlich der KJPP von einer Unterbezahlung auszugehen. In den erhobenen Minutenwerten spiegeln sich nicht die nötige Netzwerkarbeit wieder, die parallel von der Klinik aus erfolgt, Fortbildungs- und Dokumentationszeit des Teams, Aufwände für die Organisation oder Ausfallzeiten. Bei einer nur auf den Patientenaufwand bezogenen Berechnung muss die Fahrzeit mit einbezogen werden, die Multiprofessionelle Fallbesprechung, nötige strukturelle Organisationszeiten (wer fährt wann wohin?) sowie Übergabezeiten (Kommunikation zum Übereinanderlegen der jeweiligen Therapieeinheiten ist essentiell für den Erfolg von StäB), so dass – auch wenn es nur 62min vor Ort sind – leicht das doppelte bis dreifache an aufgewendeter Zeit resultiert. Somit muss pro Patient ein deutlich größeres Zeitvolumen angesetzt werden, was eine entsprechende Personaldecke voraussetzt. Da in StäB eher erfahrenere Kräfte mit Zusatzweiterbildung arbeiten, deren Gehälter höher sind als der Klinikdurchschnitt, damit das hochqualitative Angebot geleistet werden kann, muss sich dies in der Vergütung abbilden. Dadurch, dass in der KJPP jedes Krankheitsbild in jeglicher Schwere behandelt werden kann, ist ein Wirtschaftlichkeitsgebot im Vergleich zu einer stationären Behandlung für das gleiche Störungsbild mit ca 350-500€ versus aktuell durchschnittlich 245€ in StäB (im Bericht angegebene Erlöse 2018: 189,68€, 2019: 245,14€, 2020: 251,25€) auf jeden Fall gegeben – derzeit sind kinder- und jugendpsychiatrische Leistungen in StäB stark unterfinanziert.
Der Medizinische Dienst hat laut GKV 553 StäB-Fälle im Zeitraum vom 4. Quartal 2019 bis 1. Quartal 2021 begutachtet und ausgewertet. „Das wohl eindringlichste Ergebnis dieser Auswertung war, dass 20 % der begutachteten Fälle keine Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit aufwiesen […].Die Analyse zeigte zudem, dass weitere wichtige Qualitätsanforderungen wie beispielsweise die vorgeschriebenen täglichen direkten Patientenkontakte oder die wöchentlichen ärztlichen Visiten nicht immer realisiert wurden“ (S. 39). Aus Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie dürfte es sich hier nur um wenige Einzelfälle handeln. Eine bestätigte primäre Fehlbelegung aus unserem Fach ist uns nicht bekannt – allenfalls erfolgten bei überlastetem Familiensystem doch einzelne vollstationäre Aufnahmen. Tägliche Patientenkontakte sind als Essenz der StäB Behandlung selbstverständlich einzuhalten, strittig war z.B. lediglich die – für 2022 durch einen Zusatz im OPS geheilte – Frage, ob ein Elterngespräch mit nur kurzer Begrüßung des Kindes auch als „Patientenkontakt“ gelte.

In StäB fehlt bisher die Erweiterung auf andere ambulante Leistungserbringer
Eine lapidare Nebenbemerkung der GKV: „Ergänzend weisen auch Leistungserbringer […] selbst auf eine unzureichende Einbindung ambulanter Leistungserbringer zur Herstellung der gewünschten Behandlungskontinuität […]hin“ verdeckt, dass der Bericht der Selbstverwaltung den klaren Auftrag aus der Gesetzesbegründung nicht erfüllt hat, der sogar noch weiter ging: „Aufgrund dieses Berichts kann die Entscheidung getroffen werden, ob und in welcher Form z. B. Netzwerke ambulanter Leistungserbringer die StäB selbstständig, das heißt nicht nur im Wege der Beauftragung, durchführen können“ (BT-Drucksache 18/9528, S. 49). Die Selbstverwaltung hätte hier einräumen müssen, dass sie selbst zur Unmöglichkeit der Übernahme von StäB-Leistungen durch andere ambulante Leistungserbringer, wie etwa sozialpsychiatrische Praxen beigetragen hat, indem sie nämlich in der Rahmenvereinbarung den möglichen Umfang auf 50% der Leistungen je Fall begrenzt hat.

StäB hat sich als familienfreundliche Behandlungsart bewährt
Somit ist es insgesamt keineswegs zutreffend, dass StäB in der KJPP „den gesetzlich vorgegebenen Anspruch der Krankenhausbehandlung im häuslichen Umfeld [verfehlt]“ (S. 38). Es sei darauf verwiesen dass in der politischen Diskussion StäB insbesondere als familienfreundliche und familiennahe Behandlungsform beschlossen wurde; auch vor dem Hintergrund, Einsparungen bei der besonders aufwändigen Kinder- und Jugendpsychiatrie vornehmen zu können (Stichwort: Aufbau (von StäB) statt Ausbau (von Betten)). Schlussfolgerungen, welche die StäB-Einheiten der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit denen der Erwachsenenpsychiatrie über einen Kamm scheren, undifferenziert sind und welche existierende Forschungsergebnisse nicht in den Blick nehmen, können nur als unseriös und eines Evaluationsberichts nicht würdig bezeichnet werden. Auf die wirklich existierende Problematik der Unmöglichkeit, dass in den großen Versorgungsgebieten der KJPP ohne Einbezug anderer ambulanter Leistungserbringer viele Familien nicht erreicht werden können, geht der Bericht entgegen den Erwartungen des Gesetzgebers nicht ein.

Weiterführende Literatur entnehmen Sie bitte dem PDF.

Suizidgedanken sind bei Jugendlichen quasi „normal“ und weit verbreitet (je nach Studie bis 60 %). Junge Leute, die entwicklungsbedingt eine „kurze Zündschnur“ haben und bei denen sich Handlungsimpulse schneller durchsetzen als im Erwachsenenalter, sind gefährdet, Gedanken auch in Handlungen umzusetzen. Daher sind vollendete Suizide bei Jugendlichen nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache.


Es gibt wenige Hinweise darauf dass zumindest Gedanken an Suizid unter Bedingungen der Corona-Lockdown- und Kontaktbeschränkungen bei Jugendlichen zugenommen haben und dass unsere kinder- und jugendpsychiatrischen Hilfesysteme verstärkt mit solchen Krisen zu tun haben.
Im Jahr 2020 haben sich in Deutschland 155 Jugendliche (15 bis unter 20 Jahre) durch Suizid das Leben genommen, bei den Kindern (10 bis unter 15 Jahre) waren es 25!

 
Wir treten als Vorstand der DGKJP der laufenden Petition der Gruppe an Forschenden und Versorgenden aus Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie um Frau Dr. Ute Lewitzka und Frau Prof. Katja Becker zur Förderung einer Suizidprävention bei. Die Forderungen nach einer bundesweiten Koordinationsstelle und einer bundeseinheitlichen kostenlosen Hilfe- Rufnummer und Webseite sind sinnvoll und wir unterstützen diese Forderungen aktiv.

Der Vorstand der DGKJP

Vor dem Hintergrund des Krieges zwischen Russland und der Ukraine unterstützt der DGKJP-Vorstand die ESCAP-Stellungnahme War hits children first“. Denn Kriege haben Folgen, insbesondere für Kinder und Familien. Die Traumata können zu Angst und Depression bei Geflüchteten führen.

Appell der kinder- und jugendpsychiatrischen und kinder- und jugendmedizinischen Fachgesellschaften und Verbände in Deutschland

Die Kinder- und Jugendpsychiater:innen und –psychotherapeut:innen und die Kinder- und Jugendärzt:innen in Deutschland warnen vor den möglichen Risiken einer Cannabislegalisierung und appellieren, etwaige Legalisierungsbestrebungen nicht auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen auszutragen. Alle Vorsätze, die Legalisierung mit einem bestmöglichen Jugendschutz zu verbinden, haben sich in vielen Legalisierungsländern als Illusion erwiesen. Bereits die gesellschaftliche Debatte um eine Abgaberegulierung von Cannabisprodukten hat ungünstige Effekte auf das Konsumverhalten junger Menschen. Suchtprävention hat in der Vergangenheit erwünschte Effekte gezeigt, wenn sie auf eine strikte Angebotsreduzierung zielt. Den Markt suchterzeugender Substanzen zu erweitern und auf eine schadensbegrenzende Beeinflussung von Gefährdeten und Konsumierenden durch Verhaltensprävention zu setzen hat sich demgegenüber als kaum wirksam herausgestellt.

Studien aus den USA belegen, dass die Legalisierung von Cannabis auch dann, wenn dies nur für erwachsene Personen vorgesehen ist, doch auch für Jugendliche mit starken Zuwächsen beim Cannabismissbrauch sowie der Entwicklung einer Cannabisabhängigkeit einhergehen [1]. Infolge der Legalisierung hat die Risikowahrnehmung in Bezug auf die gesundheitlichen Gefahren des Cannabiskonsums insbesondere bei den Minderjährigen abgenommen, trotz aller Beschränkungen des legalen Erwerbs auf Erwachsene [2]. In manchen US-Bundesstaaten mit einer Legalisierung liegen die Konsumquoten in der Bevölkerung um 20 bis 40 Prozent höher als im US-Bundesdurchschnitt [1,3]. Cannabisprodukte, die von Erwachsenen legal erworben werden, werden trotz Verbots an Jugendliche durchgereicht [4,5].

Die Folgen für die medizinische Versorgung von Cannabiskonsumierenden sind alarmierend. In Colorado (USA) hat sich seit der Legalisierung des Cannabisbesitzes die Rate der cannabisbedingten Vergiftungsfälle und cannabisbezogenen Krankenhausaufnahmen mehr als verdoppelt [6,7,8,9]. Bei den cannabisbezogenen Notrufen in Vergiftungszentralen werden die größten Zuwächse in den Altersgruppen 0 bis 8 Jahre und 9 bis 17 Jahre verzeichnet [6,10,11]. Der Anteil der Suizide mit Cannabisbeteiligung ist in Colorado seit der Legalisierung auf das Doppelte angestiegen. Bei den 10- bis 17-Jährigen liegt der Anteil der Suizide mit Cannabisbeteiligung mit 51 Prozent am höchsten [12]. Die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle unter Cannabiseinfluss ist in Colorado nach der Legalisierung ebenfalls auf das Doppelte angestiegen [6,12,13,14].

Zudem zeigt die Legalisierung in den USA und Kanada, dass die angestrebte Austrocknung des Schwarzmarktes nur bedingt gelingt und sich Konsumierende die Cannabisprodukte zu einem nicht geringen Anteil auch weiterhin über illegale Quellen beschaffen. Insbesondere jüngere Konsumentengruppen nutzen die günstigeren Schwarzmarktprodukte bevorzugt. Neben dem fortbestehenden Schwarzmarkt erweisen sich Probleme in der Marktregulierung, Schmuggel und Steuerbetrug bisher als unlösbar [12,15,16].

Die Legalisierung verharmlost auch die gesundheitlichen Gefahren, negativen Folgen und Langzeiteffekte des Cannabiskonsums auf die altersgerechte physische und psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in Auftrag gegebene CaPRiS-Studie (Cannabis: Potential und Risiken) zeigt, dass das Abhängigkeitspotenzial für Jugendliche besonders hoch ist [17]. Etwa 9 Prozent aller CannabiskonsumentInnen entwickeln über die Lebenszeit eine Cannabisabhängigkeit. Diese Rate beträgt 17 Prozent, wenn der Cannabiskonsum in der Adoleszenz beginnt bzw. 25 bis 50 Prozent, wenn Cannabinoide in der Adoleszenz täglich konsumiert werden [18].

Die Befunde zu den ungünstigen Einwirkungen auf die Hirnreifung junger Menschen mehren sich seit einer Dekade [19,20]. Cannabiskonsum in Pubertät und Adoleszenz führen zu strukturellen und funktionellen Veränderungen im Gehirn mit der Folge von Einbußen in Gedächtnis-, Lern- und Erinnerungsleistungen sowie Minderungen der Aufmerksamkeit, Denkleistung und Intelligenz [21,22,23,24]. Da die Hirnreifung bis über die Mitte der dritten Lebensdekade hinausreicht, sind Abgaberegulierungen mit Altersbegrenzungen bei 21 oder gar 18 Jahren aus entwicklungsneurobiologischer Sicht nicht plausibel.

Weiterhin ist der Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und psychischen Störungen gut belegt. Bei vulnerablen Personen besteht ein dosisabhängiger Zusammenhang mit depressiven Störungen, Suizidalität, bipolaren Störungen, Angsterkrankungen sowie zusätzlichem Missbrauch von Alkohol und anderen illegalen Drogen [25]. Cannabiskonsum kann bei ansonsten unauffälligen Menschen mit einer bestimmten genetischen Disposition Psychosen auslösen und den Verlauf schizophrener Psychosen deutlich verschlechtern [26]. Bei Cannabiskonsum in der Schwangerschaft werden Frühgeburten und Entwicklungsstörungen des Kindes beobachtet [27].

Intensiv Cannabis konsumierende Kinder und Jugendliche brechen häufiger die Schule ab und weisen ungünstigere Bildungsabschlüsse als ihre nichtkonsumierenden Altersgenossen auf [28].

Die Programmatik der deutschen Cannabispolitik hat sich mit Blick auf Konsumquoten und Hilfestellungen für Suchtkranke in der Vergangenheit bewährt. Sie fußt auf vier Säulen: Prävention, Hilfen, Schadensminimierung und Angebotsreduzierung (BtMG) [29]. In der deutschen Bevölkerung liegen nach Daten der EBDD die Quoten täglichen oder fast täglichen Cannabisgebrauchs im europäischen Vergleich niedrig (mit 0,4% für die Gesamtbevölkerung auf dem 5. Rang von 14 Ländern insgesamt, europäischer Durchschnitt 0,7%) [30]. Auch hat die Zahl regelmäßig konsumierender Jugendlicher nach Analysen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in den vergangenen 30 Jahren nicht bedeutsam zugenommen [31]. Hinsichtlich der Inanspruchnahme therapeutischer Hilfen lässt sich feststellen, dass kaum irgendwo anders in Europa vergleichbar viele Cannabisabhängige in eine Suchtbehandlung vermittelt werden wie in Deutschland [30].

Diese erfolgreiche Programmatik inklusive ihrer strikten Angebotsreduzierung sollte fortgesetzt und nicht etwa durch ungünstige Folgen einer Legalisierung beeinträchtigt werden wie sie aus den USA und Kanada in der wissenschaftlichen Literatur berichtet werden. Aufklärung über Gesundheitsgefahren, Resilienzförderung im Kindes- und Jugendalter, Jugendschutzgesetzgebung und Therapieforschung müssen zukünftig gestärkt werden, um das Risikobewusstsein junger Menschen zu schärfen, ihre Widerstandskraft gegen verfrühten Substanzkonsum zu erhöhen und die noch allzu schwachen Interventionserfolge weiter zu verbessern.

Berlin/Mainz/Schleswig, 16.12.2021

Mit Entsetzen hat der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) erfahren, dass die Helios St.Josefs-Hospital GmbH Bochum, plant die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bochum-Linden zu schließen.

Hier zeigt sich die hässliche Seite der Krankenhausprivatisierung, wenn ein offenbar auf Rendite ausgerichteter privater Krankenhaus-Konzern die Versorgung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen an einem nun „unökonomischen“ Einzelstandort für nicht mehr sinnvoll hält und einen Versorgungsauftrag zurückgeben möchte. Bisher ist die Klinik pflichtversorgend für Notfälle wie schwer magersüchtige, suizidale oder akut psychisch dekompensierte Kinder und Jugendliche und eine bedeutsame, nicht einfach zu ersetzende Anlaufstelle für die Region rund um die Uhr. Sie liegt in einer Region mit nicht gerade wenigen Kindern aus benachteiligten Verhältnissen.

Nachdem bisher über viele Jahre, bevor gewisse Mindestanforderungen an Personalausstattung gegolten haben, es für private Krankenhausträger sehr attraktiv war, psychiatrische Kliniken zu übernehmen und zu betreiben, kehrt sich nun offenbar das Bild um. Kinder- und Jugendpsychiatrien können nicht mehr, weil sie entsprechend ausreichend Personal vorhalten sollen und damit auch entsprechende Lohnkosten refinanzieren müssen, als attraktiv gelten. Dies ist hochgradig skandalös, zeigt es doch, dass ein gesellschaftlicher Auftrag der Versorgung von schwerst erkrankten Kindern und Jugendlichen offenbar keinerlei Stellenwert in solch trägerseitigen Überlegungen hat. Es lässt fragen, ob die Daseinsfürsorge für diese vulnerable Gruppe wirklich privaten Krankenhausträgern überlassen werden kann. 

Die DGKJP setzt sich mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dafür ein, dass die Versorgung für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche bundesweit auf einem hohen Niveau gesichert wird – die Corona-Pandemie hat hier den Bedarf sichtbarer gemacht und neue Aufgaben gestellt. Wir haben uns im BMG-Dialog „Weiterentwicklung der Versorgung von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen“ federführend dafür eingesetzt, neue Versorgungsmodelle zu entwickeln und die Versorgung auch unter erschwerten Bedingungen, wie dem Fachkräftemangel etc., weiter zu entwickeln. Umso mehr erscheint das Vorgehen in Bochum eine Kluft aufzutun, zwischen dem was inhaltlich-fachlich geboten ist, und dem, was Krankenhausträger offenbar in das Zentrum ihres Handelns stellen. Hier zeigt sich, wie die Ökonomisierung der Medizin auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen wird. Es ist eine gesellschaftliche Frage, ob dies in Zukunft akzeptiert werden wird oder ob die Daseinsfürsorge gesamtgesellschaftlich den entsprechenden Stellenwert bekommt. 

Es ist wohlfeil, sich über psychische Probleme auf Grund der Covid-19 Pandemie allenthalben in der Presse zu verlautbaren, es ist zynisch, wenn die Versorgung für die schwerst erkrankten Kinder und Jugendlichen dann heruntergefahren wird. Die DGKJP wird, da sie diesen Vorgang auch als einen Präzedenzfall sieht, wie mit der Versorgung von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen umgegangen wird, dies auf allen Ebenen der Politik, der Krankenhausträger und der Kostenträger zum Thema machen. Neben der sehr persönlichen Betroffenheit der Mitarbeiter*innen der Klinik sehen wir darin auch einen möglichen Dammbruch für die teil- und vollstationäre Versorgung im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Berlin, 25.11.2021

Mit Entsetzen hat der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) erfahren, dass die Helios St.Josefs-Hospital GmbH Bochum, plant die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bochum-Linden zu schließen.

Hier zeigt sich die hässliche Seite der Krankenhausprivatisierung, wenn ein offenbar auf Rendite ausgerichteter privater Krankenhaus-Konzern die Versorgung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen an einem nun „unökonomischen“ Einzelstandort für nicht mehr sinnvoll hält und einen Versorgungsauftrag zurückgeben möchte. Bisher ist die Klinik pflichtversorgend für Notfälle wie schwer magersüchtige, suizidale oder akut psychisch dekompensierte Kinder und Jugendliche und eine bedeutsame, nicht einfach zu ersetzende Anlaufstelle für die Region rund um die Uhr. Sie liegt in einer Region mit nicht gerade wenigen Kindern aus benachteiligten Verhältnissen.

Nachdem bisher über viele Jahre, bevor gewisse Mindestanforderungen an Personalausstattung gegolten haben, es für private Krankenhausträger sehr attraktiv war, psychiatrische Kliniken zu übernehmen und zu betreiben, kehrt sich nun offenbar das Bild um. Kinder- und Jugendpsychiatrien können nicht mehr, weil sie entsprechend ausreichend Personal vorhalten sollen und damit auch entsprechende Lohnkosten refinanzieren müssen, als attraktiv gelten. Dies ist hochgradig skandalös, zeigt es doch, dass ein gesellschaftlicher Auftrag der Versorgung von schwerst erkrankten Kindern und Jugendlichen offenbar keinerlei Stellenwert in solch trägerseitigen Überlegungen hat. Es lässt fragen, ob die Daseinsfürsorge für diese vulnerable Gruppe wirklich privaten Krankenhausträgern überlassen werden kann. 

Die DGKJP setzt sich mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dafür ein, dass die Versorgung für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche bundesweit auf einem hohen Niveau gesichert wird – die Corona-Pandemie hat hier den Bedarf sichtbarer gemacht und neue Aufgaben gestellt. Wir haben uns im BMG-Dialog „Weiterentwicklung der Versorgung von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen“ federführend dafür eingesetzt, neue Versorgungsmodelle zu entwickeln und die Versorgung auch unter erschwerten Bedingungen, wie dem Fachkräftemangel etc., weiter zu entwickeln. Umso mehr erscheint das Vorgehen in Bochum eine Kluft aufzutun, zwischen dem was inhaltlich-fachlich geboten ist, und dem, was Krankenhausträger offenbar in das Zentrum ihres Handelns stellen. Hier zeigt sich, wie die Ökonomisierung der Medizin auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen wird. Es ist eine gesellschaftliche Frage, ob dies in Zukunft akzeptiert werden wird oder ob die Daseinsfürsorge gesamtgesellschaftlich den entsprechenden Stellenwert bekommt. 

Es ist wohlfeil, sich über psychische Probleme auf Grund der Covid-19 Pandemie allenthalben in der Presse zu verlautbaren, es ist zynisch, wenn die Versorgung für die schwerst erkrankten Kinder und Jugendlichen dann heruntergefahren wird. Die DGKJP wird, da sie diesen Vorgang auch als einen Präzedenzfall sieht, wie mit der Versorgung von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen umgegangen wird, dies auf allen Ebenen der Politik, der Krankenhausträger und der Kostenträger zum Thema machen. Neben der sehr persönlichen Betroffenheit der Mitarbeiter*innen der Klinik sehen wir darin auch einen möglichen Dammbruch für die teil- und vollstationäre Versorgung im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Berlin, 25.11.2021