02|06|2021

DGKJP-Wahlprüfsteine

Wahlprüfsteine für die Bundestagswahl 2021
der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP)

Die DGKJP geht bei den Wahlprüfsteinen von folgenden wissenschaftlich-epidemiologischen Erkenntnissen aus:

  • Jede zweite psychische Störung im Erwachsenenalter beginnt in der Kindheit vor dem Alter von 15 Jahren (Quelle: Dunedin longitudinal study).
  • Frühe psychische Störungen bei Kindern ziehen enorme Ausgaben der Gesellschaft im späteren Leben nach sich.
  • Frühe Traumatisierungen bei Kindern wirken sich auch auf die somatische Gesundheit im Erwachsenenalter aus.
    Wir verkennen nicht, dass in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen wurden, durch Gesetze und Verordnungen die Situation psychisch kranker und gefährdeter Kinder und Jugendlicher zu verbessern. Wir fragen die Parteien allerdings auch, welche Anstrengungen sie diesbezüglich konkret unternommen haben und weiterhin unternehmen wollen.

Darauf basierend, messen wir die zur Wahl stehenden Parteien an den folgenden Punkten:

1. Prävention
Die skandalösen Fälle von Lügde, Mönchengladbach und Staufen haben gezeigt, dass unsere Gesellschaft hinsichtlich des Kinderschutzes und der Missbrauchs- und Misshandlungsprävention und hier insbesondere auch der Zusammenarbeit verschiedener Dienste und Institutionen noch weit entfernt ist von einem effektiven Kinderschutz.

Wir begrüßen, dass die Bundesregierung das Soziale Entschädigungsrecht grundlegend reformiert und Initiativen zur besseren Versorgung von Kindern in Einrichtungen ergriffen hat. Wir begrüßen die Einrichtung von präventiven Modellvorhaben.

  • Das Recht auf gewaltfreie Erziehung in relativer Sicherheit sollte umgesetzt werden durch ein Misshandlungs- und Missbrauchsregister und die Förderung von entsprechenden Registerstudien.
  • Die maximale Anzahl der zu betreuenden Kinder durch eine die Vormundschaft innehabende Person sollte gesetzlich durch eine Obergrenze festgelegt werden.
  • Zur Frühintervention nach Traumatisierungen wird die DGKJP darauf achten, dass Traumaambulanzen nach SGB XIV nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder und Jugendliche, mit spezialisierten Fachkräften für Kinder und Jugendliche und kindgerechter Ausstattung, flächendeckend eingerichtet werden.
  • Die Initiativen und geförderten Modellvorhaben zur Prävention von Störungen bei Kindern psychisch kranker Eltern sollten nach positiver Evaluation verstetigt werden.

Unsere Frage an die Parteien:

  • Welche Anstrengungen werden Sie übernehmen, um die Versorgung von minderjährigen Opfern von Gewalttaten in die Regelversorgung zu bringen? Welchen Stellenwert hat Prävention – gesamtgesellschaftlich und in allen Bereichen der Sozialgesetzgebung – für Ihre Partei?

2. Umsetzung der Kinderrechte und einer kindgerechten Justiz
Kinderrechte sind in dieser Legislaturperiode entgegen den Ankündigungen im Koalitionsvertrag noch kein Bestandteil der Grundrechte deutscher Bürger*innen geworden, wenngleich in vielen neuen Gesetzen dem Selbstbestimmungsrecht von Kindern und Jugendlichen Rechnung getragen wurde.

Wir begrüßen die in dieser Legislaturperiode erfolgte Stärkung der Rechte von Opfern im Strafverfahren und die beschlossene konsequentere Verfolgung von Cyber-Missbrauch.

Das Übereinkommen des Europarats (SEV-Nr. 201) vom 25.10.2007, die sog. „Lanzarote-Konvention“, sollte noch vollständig in deutsches Recht umgesetzt werden. Opfer von Gewalt sollten das Recht auf eine richterliche Videovernehmung durch geschulte Richter*innen erhalten, um ihnen lange, retraumatisierende Gerichtsverhandlungen zu ersparen.

  • Die Ressourcen für Videovernehmungen und Schulungen der Richter*innen sowie für die erforderliche Entlastung derjenigen Richter*innen, welche für Videovernehmungen zur Verfügung stehen, sollten verbindlich vorgesehen werden.
  • Im Spannungsfeld von spezialisierten Angeboten und der Notwendigkeit der Versorgung in Deutschland in der Fläche ist entsprechende Expertise vorzuhalten.
  • In die zwischenzeitlich eingeräumte Möglichkeit einer Videovernehmung nach § 58a StPO sollte eine Wahlmöglichkeit der Betroffenen aufgenommen werden.
  • Kindlichen Opfern von Gewalt sollte ferner eine Psychotherapie zur Verarbeitung der Geschehnisse sofort zukommen. Dem Mythos einer Behandlung, welche der Wahrheitsfindung der Gerichte entgegenstehe, ist entgegenzutreten.
  • Die Kriterien für Glaubhaftigkeitsbegutachtungen sollten grundlegend von einem Expertengremium unter Beteiligung von kinder- und jugendpsychiatrischer Expertise überarbeitet werden.
  • Das Einvernehmen im Koalitionsvertrag, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, sollte spätestens in der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden.
  • Die DGKJP fordert hinausgehend über die Forderung nach der Besetzung der Position „Kinderbeauftragte*r“ der Regierung auch die Einführung einer Normenkontrolle aller Gesetzesvorhaben in Hinsicht auf ihre Auswirkungen auf Kinder, Jugendliche und Familien.

Unsere Frage an die Parteien:

  • Welche Bedeutung messen Sie dem Strafrecht zu? Welche Rolle sehen Sie im Bereich der Kooperation für die verschiedensten Professionen im Spannungsfeld von Strafrecht und Hilfen?
  • Wie stehen Sie zur Aufnahme von Kinderrechten in das GG?
  • Wie wollen Sie gleichwertige Lebensverhältnisse von Kindern sichern, egal ob diese in ländlichen oder in urbanen Regionen leben, auch bezogen auf die Versorgung mit kinder- und jugendpsychiatrischen und –psychotherapeutischen Angeboten unter Berücksichtigung etwa des Fachkräftemangels? Wie kann eine regionale Versorgung diesbezüglich unterstützt, gesichert und weiterentwickelt werden?

3. Intervention und Behandlung psychischer Störungen bei Kindern – Entwicklung der kinder- und jugendpsychiatrischen Leistungserbringung, insbesondere komplexer Behandlungen
Die DGKJP setzt sich dafür ein, dass das „Inverse care law“ der asymmetrischen Ressourcenallokation an psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten durch eine bessere Planung, eine bessere Verzahnung der Angebote und sektorübergreifende Versorgung angegangen wird.

  • Wir fordern einen Schutz der kleinen, dezentralen kinder- und jugendpsychiatrischen Einheiten vor deren Schließung bei Unterschreiten der PPP-RL und das Einrichten regionaler Dialoge zur Unterstützung. In der Kinderheilkunde wurden diesbezüglich Sicherstellungspauschalen gefordert.
  • Wir fordern bei Modellvorhaben zur Verbesserung der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher nach § 64 b SGB V einen Kontrahierungszwang der Leistungsträger und die intensivere Förderung und den flächendeckenden Ausbau von Modellen für Kinder und Jugendliche (mindestens 1 Modellvorhaben je Bundesland für Kinder und Jugendliche)

Die Entwicklung der Versorgung bedarf der kontinuierlichen Weiterentwicklung unter Berücksichtigung von Expert*innen aber insbesondere auch von Betroffenen. Leistungserbringer neigen zu Partikularinteressen. Der Bedarf muss aber von den Patient*innen aus gedacht werden.

  • Wir fordern eine rechtliche Neuordnung der Möglichkeiten der psychiatrischen und psychotherapeutischen Leistungserbringung für Kinder, eine Aufhebung von unsystematischen Leistungsausschlüssen und eine gute Verzahnung der Versorgung mit dem Ausbau von sektorübergreifenden Angeboten.
  • Es fehlt an einem Kooperationsgebot im SGB V; regionale Verbund- und Netzwerkstrukturen mit dem Ziel einer besseren Vernetzung und mehr Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit sind zu fördern.
  • Komplexen Bedarfen von schwer Erkrankten im Kindes- und Jugendalter wird derzeit in den Regelungen des SGB V aufgrund von Sektorschranken nicht ausreichend begegnet.
  • Die ambulante Versorgung für schwerst psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche in psychiatrischen Institutsambulanzen folgt einem länderspezifischen Abrechnungssystem, das die Betreuungsintensität beeinflusst.
  • Wir fordern eine adäquate Berücksichtigung des Faches bei der Finanzierung von evidenzbasierten Leitlinien zur Behandlung kinder- und jugendpsychiatrischer Störungen sowie die breitere Förderung von Forschungsvorhaben zu deren Umsetzung, insbesondere auch einer Leitlinie zur Vermeidung von Zwangsmaßnahmen sowie die Evaluierung des neuen § 1631b (2) BGB.
  • Die DGKJP setzt sich für eine adäquate Personalbemessung in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken ein und für eine auskömmliche Finanzierung der Personalkosten. Es ist nicht ausreichend, nur die Aufsicht und die medizinische Basisversorgung in personellen Mindestvorgaben sicherzustellen – gewährleistet werden soll nach gesetzlichem Auftrag eine leitliniengerechte Qualität. Die Orientierung an überkommenen Krankenhaus-Strukturen in der aktuellen PPP-RL halten wir für kontraproduktiv. Benötigt wird ein von den Bedarfen der Patient*innen ausgedachtes Finanzierungsmodell, das in der Lage ist, die Komplexität der bisherigen Regelungen zu reduzieren. Hierfür bedarf es eines Personalbemessungsmodells.
  • Rehabilitationsmaßnahmen für psychisch kranke Kinder haben trotz der früheren Versuche der Bündelung im SGB IX keinen systematischen gesetzlichen Rahmen und keine bedarfsgerechte Umsetzungsperspektive in der Fläche erhalten.

Unsere Fragen an die Parteien:

  • Welche konkreten Maßnahmen unterstützen Sie zur Weiterentwicklung und Konsolidierung der Behandlungsangebote für psychisch kranke Kinder? Was wird Ihre Partei dafür unternehmen, dass jedes Kind mit einer psychischen Störung Zugang zu Diagnostik und Behandlung erhalten kann – unabhängig vom Wohnort? Inwiefern wird sich Ihre Partei für eine Prüfung des „Plattformmodells“ der psychiatrischen Verbände zur Krankenhausfinanzierung einsetzen?
  • Welche Lösungen zur von Patient*innen aus gedachten ambulanten Komplexleistungen sehen Sie? Welche Möglichkeiten sehen Sie, bundesweit einheitliche und vergleichbare Versorgungsmöglichkeiten zu schaffen? Wie werden Sie mit den Vorschlägen umgehen, die im Zukunftsdialog der Aktion Psychisch Kranke erarbeitet worden sind? Wie denken Sie über eine Verstetigung dieses bewährten Dialogformates mit Einbindung übergreifender Expertise und der Geschäftsführung durch die Aktion Psychisch Kranke? Wie denken Sie über eine Aufnahme kinderpsychiatrischer Expertise in die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR)? Wie denken Sie über ein Bundesmodellprojekt zur Weiterentwicklung von einzelfallbezogener Koordination und regionaler Kooperation?

4. Arzneimittelversorgung
Die Arzneimittelzulassung bei Substanzen gegen psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter hat sich trotz Maßnahmen der EU etc. nicht verbessert. Es geht nicht darum, dass Kinder keine „Versuchskaninchen“ sein sollen, sondern darum, aus der Erfahrung zu lernen, dass die „stick and carrot policy“ der EU-Verordnung für den Bereich der Psychopharmakologie in Deutschland versagt hat. In der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher geht es meist um off-Label Use von off-patent Medikamenten, die hinreichende Evidenz haben.

Unsere Frage an die Parteien:

  • Sehen Sie Lösungswege, um Patient*innen zu einer besseren Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) zu verhelfen, in dem für einen begrenzten Bereich nicht die Efficacy sondern Safety Aspekte zu einer begrenzten Zulassung unter strengen Verordnungskautelen führen könnten? Was sind Ihre Maßnahmen, um die Sicherheit von minderjährigen Patient*innen mit Psychopharmakotherapie zu erhöhen?

5. Bildung und Ausbildung
Die Corona-Pandemie hat die schmerzliche Erfahrung mit sich gebracht, wie sehr das deutsche Bildungswesen vor allem die prekär aufwachsenden Kinder und Jugendlichen benachteiligt, dadurch dass es den Anschluss an die Digitalisierung verpasst hat. Bildungsrückstände von benachteiligten Kindern werden größer.

Die Ausdehnung der Medizinstudienplätze erfolgt allzu zögerlich. Auf eine adäquate Berücksichtigung der Lehrstühle unseres Faches wird zu achten sein. Überfällig ist eine Entscheidung das Fach in die Pflichtlehre aufzunehmen, deren Teil es als einziges Klinisches Fach unter allen anderen bisher nicht ist. Nur dadurch kann das Fach unter Studierenden bekannter werden und nur so der eklatante und gegenüber anderen Fächern zahlenmäßig beispiellose Facharztmangel behoben werden

  • Die DGKJP fordert die bürokratiearme Umsetzung der Digitalisierungsstrategie für Schulen aller Schularten und -stufen und die individuelle Berücksichtigung von Kindern aus prekären Lebensverhältnissen, ebenso eine adäquate Berücksichtigung der natürlichen Bewegungsbedürfnisse von Kindern im Rahmen von Videounterricht.
  • Die DGKJP fordert, dass endlich die Umsetzung der Aufnahme des Faches Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in die universitäre Pflichtlehre für Studierende der Medizin im Rahmen der Approbationsordnung erfolgt.
  • Ferner fordert die DGKJP die zügige Umsetzung der Kapazitätsausweitung im Medizinstudium.

Unsere Frage an die Parteien:

  • Welche Initiativen im Bildungswesen für die Aufhebung von Benachteiligungen – auch die Aufhebung der Benachteiligung des Faches Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie im Medizinstudium, plant Ihre Partei?

6. Bessere Kooperation von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie
Die DGKJP setzt sich dafür ein, dass eine gemeinsame, integrierte Hilfeplanung bei psychisch kranken und rehabilitationsbedürftigen Kindern und Jugendlichen im multiprofessionellen Rahmen unter Partizipation der Betroffenen erfolgen kann. Die „Übersetzung“ des BTHG in die Jugendhilfe ist noch zu leisten.

  • Eine gemeinsame Hilfeplanung aus allen Systemen muss rechtskreisübergreifend für teilhabebeeinträchtigte und seelisch oder mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche kodifiziert werden.
  • Dem Kontinuitätsprinzip muss z.B. auch für Pflegekinder Vorrang eingeräumt werden, wie es im Entwurf des neuen SGB VIII vorgesehen ist.

Unsere Frage an die Parteien:

  • Wie stehen Sie zur „inklusiven Lösung“, die seit Jahren diskutiert wird?

7. Forschungsförderung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Die Ausschreibung der Deutschen Zentren für psychische Gesundheit und Kinder- und Jugendgesundheit ist erfolgt. Dies begrüßen wir. Gleichzeitig wurde deutlich: das Streben nach exzellenter Forschung wurde in der Ausschreibung auf regionale Netzwerke verengt, und vormalige Förderinitiativen des Bundes, wie „Gesund ein Leben lang“ wurden nicht aufgenommen in die Konzeption. Versorgungsforschung kommt zu kurz.

  • Gerade in einem eher „kleinen“ Fachgebiet wie der KJPP sind nationale Netzwerke von entscheidender Bedeutung.
  • Daten aus verschiedenen Kontexten zur Beurteilung sowohl der Prävalenz psychischer Störungen bei Minderjährigen wie auch zur Versorgungssituation sollten systematischer, z.B. in einem Gesundheitssurvey, unterstützt werden.
  • Versorgungsforschung ist in Deutschland für diesen Bereich zu wenig ausgeprägt. Das RKI kann alleine nicht die Versorgungsdaten bewerten, sondern es bedarf der Förderung auch von Projekten aus dem universitären Bereich.

Unsere Frage an die Parteien:

  • Wie sollen Forschung und Verbünde jenseits der DZ Ihrer Meinung nach gefördert werden?
  • Ist Forschung zu psychischen Störungen, der neuen Morbidität in Industrienationen und deren Behandlung bei Kindern und Jugendlichen in der Zukunft eine Aufgabe, die an medizinischen Fakultäten jenseits von einzelnen DZ eine Rolle spielen soll? Welche Forschungsschwerpunkte für den Bereich der psychisch kranken Kinder wollen Sie setzen – auch für die Versorgungsforschung?

Der Vorstand der DGKJP

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