03|05|2023

Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen

Sehr geehrter Herr Professor Lauterbach,

wir wenden uns heute an Sie, um auf eine krisenhafte Entwicklung aufmerksam zu machen, die bereits in vielen Bereichen der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen zu Einschränkungen geführt hat. Diese Entwicklung wurde durch die Pandemie akut verschärft, jedoch nicht durch sie ausgelöst. Wir werden darstellen, warum dringend Korrekturen an verschiedenen Stellschrauben erforderlich sind, um diese Entwicklung aufzuhalten. Wir konzentrieren uns in diesem Schreiben auf die relevanten Bereiche des SGB V. Uns ist dabei bewusst, dass diese Felder eingebettet sind in ein größeres gesamtgesellschaftliches Versorgungssystem.

Die Problematik lässt sich in folgende Bereiche gliedern:

(1) Steigende Inanspruchnahme
Psychische Störungen stellen die maßgebliche Morbidität im Kindes- und Jugendalter dar und zählen zu häufigsten Behandlungsgründen bei Kindern und Jugendlichen. Sie sind die Volkskrankheiten mit dem frühesten Beginn, der höchsten Chronizität und bedingen erhebliche direkte und indirekte Folgekosten über die gesamte Lebensspanne.

Dass junge Menschen in Deutschland während der Pandemie eine drastische Zunahme psychischer Belastungen erlebt haben, ist durch viele Studien belegt. Die aktuelle Analyse der InEK-Daten (Kölch et al., 2023) belegt, dass sich diese Belastungen auch in einer veränderten kategorialen Morbidität äußert mit einer Zunahme von Angsterkrankungen, Depressionen sowie Essstörungen. Verschiedene regionale Auswertungen in Deutschland belegen einen massiven Anstieg von psychischen Krisen bei Kindern und Jugendlichen mit einer verstärkten akuten Inanspruchnahme der Krankenhausstrukturen. Dadurch ist die Verfügbarkeit kinder- und jugendpsychiatrischer Akutbehandlung derzeit wichtiger denn je.

(2) Fachkräftemangel
Diese bereits vor der Pandemie sich abzeichnende Steigerung der Inanspruchnahme und Belastung der Versorgungsstrukturen wird aggraviert durch einen eklatanten Personalmangel, insbesondere im ärztlichen sowie pflegerischen Bereich. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (KJPP) ist seit Jahren das Fach mit der geringsten Quote an ärztlichen Bewerber*innen auf offene Stellen. Wesentlicher Grund hierfür ist, dass „Psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen“ im Medizinstudium unterrepräsentiert ist, zumal das Fach bisher nicht in der curricularen Lehre berücksichtigt ist. Gerade mit der Reform des Studiums muss auch die Ausrichtung auf die psychische Gesundheit von Kindern stärker werden! Gleichermaßen trifft der systemische Mangel an pflegerischem und pädagogischem Fachpersonal die KJPP als besonders personalintensives Fach überproportional hart.

(3) Bürokratiemonster PPP-RL und PEPP
Der faktische Personalmangel wird zusätzlich verschärft durch den relativen Personalmangel infolge der anteilig immer weiter sinkenden Zeit des Personals direkt an den Patient*innen. Es muss immer mehr Behandlungszeit systematisch aufgewendet werden für zunehmend bizarre Dokumentations- und Organisationspflichten, die die Mangelversorgung weiter aggravieren. Der Mehrwert des vor wenigen Jahren eingeführten PEPP-Systems konnte bis heute nicht belegt werden. Die in diesem Zuge eingeführten MD-Nachweise und Dokumentationen, die vielfältig erforderlichen Codes haben nicht nur keine Verbesserung der Situation erbracht, sondern sowohl klinisch tätiges Personal als auch die Verwaltungsstrukturen an die Grenze der Belastbarkeit geführt. Der zusätzliche Aufwand erhöht die Belastungen und Unzufriedenheit des Personals. Die Situation soll nun durch die MD-Qualitätskontroll-Richtlinie abermals verschärft werden. Auch wird die Einführung der sinnvollen Stationsäquivalenten Behandlung bei Kindern und Jugendlichen durch 100 %-ige Prüfquoten behindert.

Gleichermaßen ist mit der PPP-RL ein Instrument geschaffen worden, das kontinuierlich zweckentfremdet und umgedeutet wird zum Budgetfindungsinstrument, um dessen Ausfinanzierung juristisch gestritten wird und dessen Mindestvorgaben von rund der Hälfte aller Kinder- und Jugendpsychiatrien nicht durchgängig erreicht werden (IQTiG-Quartalsbericht an den G-BA 2021). Die vorgebliche Qualitätssicherung bedeutet faktisch eine Spirale der Kosteneinsparungen durch die bereits begonnene Phase der Schließung von wohnortnahen Versorgungsstrukturen. Innerhalb der PPP-RL muss daher grundlegend umgesteuert werden. Die Überarbeitung wurde jedoch nochmals verschoben.

(4) Verschiebebahnhöfe zwischen den Systemen
Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen ist aufwändig, personalintensiv und erfordert wohnortnahe interdisziplinäre Netzwerkstrukturen mit niederschwelligen Angeboten bis hin zu hochintensiven Akutstrukturen. Diese Netzwerke umfassen Leistungen aus verschiedenen Sozialgesetzbüchern, so dass Schnittstellen mit erheblichen Reibungsverlusten und vielfachen Versorgungslücken zwischen den Systemen entstehen. Diese „Verschiebebahnhöfe“ (Abschlussbericht APK KiJu-Projekt) werden auch durch die anstehende Reform der Sozialgesetzbücher nur partiell gelöst. Insbesondere die Schnittstelle zwischen pädagogischen und Jugendhilfe-Strukturen zur Medizin bleibt im Versorgungsalltag ein gravierendes Hindernis.

(5) Blockade von Lösungsansätzen
Die o.g. Punkte sind weder neu noch unbekannt. Viele Initiativen, Konzepte und Projekte wurden in den vergangenen Jahren erarbeitet, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. So wurde durch das BMG die Aktion Psychisch Kranke (APK) betraut mit der Erarbeitung von Empfehlungen, die weitgehend auf eine Umsetzung warten. Die Empfehlungen betreffen sowohl die bessere Verzahnung von ambulantem und stationärem Bereich, komplexe sektorübergreifende Leistungen für besonders schwer erkrankte Kinder- und Jugendlichen, Hinweise zur besseren Aufklärung und Ermöglichung von Partizipation, letztlich auch Verbesserungsbedarfe innerhalb der bestehenden Strukturen, aber auch viele Hinweise zur Ökonomisierung und Schaffung von Synergieeffekten.
Erhebliche Mittel wurden für die Begleitevaluation innovativer Versorgungsmodelle im Rahmen des §64b SGB V aufgewendet, jedoch bereitet die Übertragung von Modellen im Bereich der KJPP auf andere Standorte weiterhin Mühe und es wurde das Ziel in jedem Bundesland mindestens ein Modell für Kinder und Jugendliche zu etablieren, klar verfehlt. Der wichtige Hinderungsgrund ist der fehlende Kontrahierungszwang: psychisch kranke Kinder taugen nicht für den Wettbewerb zwischen Kassen! Ebenso gelang es bisher nicht, Projekte unter Förderung des G-BA Innovationsfonds in die Regelversorgung zu überführen.

Die Situation ist prekär und die verschiedenen Problemkonstellationen verstärken sich wechselseitig. Zusammenfassend ist die Versorgung der am schwersten erkrankten Kinder und Jugendlichen unmittelbar gefährdet. Mit dem absehbaren Kollaps der stationären Versorgungsstrukturen werden mittelfristig auch viele Regionen keine ausreichende Flächenversorgung durch ambulante Strukturen mehr vorhalten können. Daher formulieren wir an dieser Stelle stichpunktartig die aus unserer Sicht dringend erforderlichen Maßnahmen, um einerseits vermeidbare Fehlentwicklungen aufzuhalten, andererseits aber nicht vermeidbare strukturelle Veränderungsnotwendigkeiten sinnvoll zu bahnen.

Kernforderungen:

  • Die Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher muss weiterentwickelt und sektorenübergreifend ausgerichtet werden. Dazu müssen die Empfehlungen der APK (KiJu Dialog) umgesetzt werden sowie neue Versorgungsmodelle (z.B. G-BA Innovationsfonds, §64b-Projekte) in der Fläche implementiert werden. Damit diese überhaupt funktionieren im Bereich KJPP muss es einen Kontrahierungszwang geben. Auch die stationsäquivalente, aufsuchende Behandlung durch das Krankenhaus benötigt für ihre Umsetzung in der Fläche bessere Anreize.
  • Wir brauchen dringend mehr Personal in allen Versorgungsbereichen. Da dies nicht sofort zur Verfügung steht, müssen umgehend Maßnahmen in die Wege geleitet werden, die eine Flexibilisierung des Personaleinsatzes ermöglichen, z.B. im Rahmen innovativer
    sektorübergreifender Angebote. Dabei muss die Behandlungskontinuität und Qualität der Versorgung gewährleistet werden. Neue Berufsgruppen wie Medical Assistants sind zur Entlastung ärztlicher Tätigkeiten verstärkt auszubilden. Die Qualifizierung von Personal im Pflege und Erziehungsdienst muss über das gesamte Arbeitsleben möglich sein. Entsprechende Fachweiterbildungen auch für Erzieher*innen müssen offiziell anerkannt werden und in den Tarifwerken Niederschlag finden.
  • Wir brauchen umgehend eine signifikante und spürbare Reduktion von patienten-fernen Tätigkeiten. Wenn Dokumentation und Organisation genauso viele Ressourcen verbrauchen, wie die Arbeit an den Patient*innen, muss über eine signifikante Modifikation, wenn nicht gar über die Abschaffung von PEPP und PPP-RL gesprochen werden.
  • Es müssen die Ausbildungs- und Studienkapazitäten erhöht werden. Das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie muss im Rahmen der Neuordnung des Medizinstudiums gestärkt werden, damit auch spätere Allgemeinärzt*innen, Ärzt*innen im Öffentlichen Gesundheitsdienst und Primärversorger*innen darin qualifiziert sind. In der Pflegeausbildung müssen Kompetenzen im Umgang mit psychischen Krisen und Verhaltensstörungen implementiert werden und Wissen über kinder- und jugendpsychiatrische Störungen wieder eingeführt werden, das mit der generalistischen Ausbildung aus den Curricula verschwand.
  • Niedergelassene Fachärzt*innen, die nach der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung arbeiten, leisten den zentralen Beitrag zur kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung in der Fläche. Viele Praxen leiden gleichermaßen unter dem interdisziplinären Personalmangel und finden keine Nachfolge. Vor dem Hintergrund der Überalterung der Niedergelassenen ist die Flächenversorgung nachhaltig in Gefahr und viele junge Ärzt*innen scheuen das finanzielle Risiko. Wir benötigen eine breite politische Initiative, die gezielt die Niederlassung fördert und auch die Weiterbildung im Fach attraktiv macht, so wie dies bereits regional durch einige Kassenärztlichen Verbände vorgemacht wird.
  • Psychiatrische Institutsambulanzen stellen die einzige ambulante hochintensive Struktur in Deutschland dar mit dem genuinen Auftrag, stationäre und teilstationäre Aufnahmen von psychisch schwer erkrankten Kindern und Jugendlichen zu vermeiden. Daher müssen diese in Deutschland in der Fläche konsequent und gleichartig ausgebaut sowie dauerhaft gefördert werden, um den bereits initiierten Abbau von stationären Versorgungsstrukturen zu kompensieren. Zudem stellt dies den einzigen plausiblen Ansatz zum Ausbau der Ambulantisierung dar. Nicht erst seit der Corona-Pandemie sind Notfallvorstellungen infolge akuter psychischer – meist suizidaler – Krisen von Kindern und Jugendlichen klinischer Alltag und wesentliche Aufgabe der stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsstrukturen. Die Finanzierung der Institutsambulanzen muss daher auch ihrem Charakter und ihrer Aufgabe als Krisen- und Notfallambulanz gerecht werden. Dies ist vor dem Hintergrund weitgehend fehlender Notfallstrukturen in der Jugendhilfe von besonderer Bedeutung.
  • Digitale Angebote können sinnvoll unterstützend eingesetzt werden. Seien es die Bereitstellung von Informationen zur Behandlung, erste Übungen zur Überbrückung von Wartezeiten oder tiefergehende therapeutische Interventionen während der Behandlung. Des Weiteren bietet, wie in der Pandemie bereits gezeigt, der Einsatz von Videosprechstunden eine Chance, den Behandlungserfolg nachhaltig zu festigen. Die Angebote können über digitale Patientenplattformen strukturiert zur Verfügung gestellt werden. Sie bieten die Chance, einen einfachen Zugang zum psychiatrischen Versorgungssystem zu ermöglichen, d. h. unter anderem zu Therapieangeboten, Service-Leistungen, wie digitale Termin-Vereinbarungen, digitale Anamnese, verschiedene Applikationen sowie zu Informationsmaterialien zu Standorten, Kliniken, Behandlern u. v. m.

Zur dauerhaften Nutzung dieser Angebote bedarf es allerdings einer Finanzierung durch die Kostenträger, die derzeit noch nicht flächendeckend gegeben ist. Die beschriebene notwendige weitere Flexibilisierung und Digitalisierung der Versorgungssysteme wird eine wesentliche Voraussetzung zur Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen Versorgung sein. Insofern sollte eine breite Initiative gestartet werden, die eine Integration digitaler Angebote in allen Versorgungsformen inhaltlich und finanziell unterstützt.
Die obigen Punkte sind nicht als abschließend zu verstehen, sollen aber Handlungsfelder aufzeigen, die es gemeinsam zu bewältigen gilt. Gerne beteiligen wir uns an einem tiefergehenden Diskurs, um Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten.

 

Mit freundlichen Grüßen

Reinhard Belling (BAG Psych)

Dr. med. Martin Jung (BAG KJPP)

Gerhard Förster (BAG PED)

Prof. Dr. med. Marcel Romanos (DGKJP)

Paul Bomke (Fachgruppe Psychiatrische Einrichtungen des Verbands der Krankenhausdirektoren Deutschlands)

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