Bundesprogramm Mental Health Coaches
Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) und derDeutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN)
zum Bundesprogramm „Mental Health Coaches“
Bundesjugendministerin Paus hat angekündigt, die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen an Schulen durch Einführung eines Modellprogramms bundesweit zu fördern. „Mental Health Coaches“ werden an 100 Schulen in allen Bundesländern Gruppen-Präventionsprogramme anbieten, „um das Wissen der Schülerinnen und Schüler über mentale Gesundheit zu erweitern und ihre Resilienz zu stärken“.
Die DGKJP und DGPPN nehmen sehr erfreut zu Kenntnis, dass sich in der breiten Öffentlichkeit und in der Politik die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die psychische Gesundheit von jungen Menschen in Deutschland nachhaltig gefährdet ist und dass neben effektiven Therapieangeboten für manifeste Erkrankungen auch frühe Prävention breit in schulischen Strukturen verankert werden muss. Hierbei muss Prävention in den kommenden Jahren deutlich intensiviert und qualitativ hochwertig ausgebaut werden. Insofern ist das Ziel der Initiative „Mental Health Coaches“ grundsätzlich zu begrüßen und das Modellprogramm setzt an der richtigen Stelle an.
Trotz der zu unterstützenden Grundidee greift das Modellprogramm zu kurz und es ist in der gegenwärtigen Konzeption kaum geeignet, die enormen Zukunftsaufgaben zu bewältigen.
Zum einen gibt es in Deutschland über 30.000 weiterführende Schulen, so dass mit der Implementierung von Coaches an etwas mehr als 100 Schulen die erforderliche Flächenwirkung präventiver Maßnahmen keinesfalls gelingen kann. Auch benötigen „Brennpunktschulen“ sicher mehr als nur „Mental Health Coaches“ zur Resilienzförderung. Das Zusammenwirken der „Mental Health Coaches“ mit bereits existierenden innerschulischen Diensten und Disziplinen, wie Schulpsycholog:innen, Schulsozialarbeiter:innen und Jugendsozialarbeiter:innen, wird deklariert, bleibt aber inhaltlich unklar. Zusätzlich ist zu fragen, wie eine Nachhaltigkeit und die Dissemination über die 100 Schulen hinaus gesichert werden soll.
Als wissenschaftliche Fachgesellschaften fordern wir zudem, dass solche Programme auch in ihren Wirkungen evaluiert werden. Nur wenige Präventionsprogramme halten einer kritischen und nach wissenschaftlichen Kriterien ausgerichteten Evaluierung stand, womit der großen Mehrheit der in Anwendung befindlichen Programme die Evidenzbasierung fehlt. Diese ist jedoch zwingende Voraussetzung für effektive Prävention, zumal angesichts limitierter Ressourcen und ökonomischer Zwänge nur die wirksamsten Programme gefördert werden können und sollen. Oft vergessen wird, dass auch Prävention Nebenwirkungen haben kann, so dass durch eine Evaluation gesichert werden muss, dass die Programme nicht stigmatisieren oder gar psychische Störungen befördern und auslösen, anstelle sie zu verhindern. Schließlich kann nur die Evidenzbasierung von Prävention flächendeckend Qualitätsstandards schaffen und den existierenden Fleckenteppich regionaler Maßnahmen eindämmen.
Das Programm des BMFSFJ zeigt auch eine weitere Schwachstelle auf, die in Deutschland bezüglich Ansätzen zur Resilienzförderung in Schulen besteht. Die föderale Struktur verhindert hier regelhaft, dass evaluierte Maßnahmen bundesweit in Schulen verfügbar sind. Auf die Notwendigkeit der Nachhaltigkeit und Orientierung von Angeboten auf die Orte, an denen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ihre meiste Zeit verbringen, wurde von vielen Expert:innen, auch von uns, mehrfach hingewiesen. Herzu ist es auch nötig, dass systemübergreifend gedacht und vor allem gehandelt wird. Wir verweisen hierzu auch auf die Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums zur psychischen Gesundheit und der Denkwerkstatt Jugendgerechte Gesundheitspolitik.
Wir sehen es für die Zukunft als unerlässlich an, dass über einzelne Programme hinaus, eine strukturelle Veränderung hinsichtlich der Prävention erfolgt: in Anbetracht des Fachkräftemangels sollten interdisziplinäre Qualifikationsmaßnahmen aller mit Jugendlichen arbeitenden Fachkräfte zur Psychischen Gesundheit erfolgen, damit Kenntnis der Hilfesysteme entsteht und eine Vermittlung in Hilfestrukturen leichter gelingt, und es bedarf niedrigschwelliger evidenzbasierter Angebote für Kinder und Jugendliche.
Ohne eine grundsätzliche Änderung im Bereich Schule bundesweit wird sich für Kinder und Jugendliche durch Einzelprogramme und –projekte nichts ändern. So sehr die föderale Struktur ein hohes Gut ist, so sehr führt sie im Bereich der Schule, und damit einem der wichtigsten Lebensbereiche von Kindern und Jugendlichen, zu ungleichen Chancen. Die divergenten Schulformen, Systeme und Hilfsstrukturen in den jeweiligen Bundesländern führen auch zu erheblichen Bildungshürden und Benachteiligungen für mobile Kinder und Familien in Deutschland. Eine Harmonisierung der Strukturen muss dann auch eine engere Kooperation und Abstimmung in der Umsetzung von evidenzbasierten Präventionsprogrammen implizieren.
Daher ist anlässlich der Initiative des BMFSFJ von den Ländern zu fordern:
- Eine konstruktive Nutzung der kultusministeriellen Länderhoheit zur Harmonisierung der Schulsysteme und Selbstverpflichtung zur systematischen nationalen Konvergenz anstelle weitergehender Differenzierung.
- Die flächendeckende Sicherstellung der Verfügbarkeit der existierenden Hilfesysteme, insbesondere der Ausbau und Qualifizierung der schulpsychologischen Dienste und der Schulsozialarbeit.
Von den Bundes- und Landesministerien, den Krankenkassen sowie Fördereinrichtungen ist zu fordern:
- Die Aufsetzung von langfristigen Förderlinien zur Generierung und Evaluierung qualitativ hochwertiger Prävention zu Verbesserung der psychischen Gesundheit und Resilienzförderung junger Menschen in Deutschland und Finanzierung der Disseminierung von evidenzbasierten Präventionsprogrammen
Berlin, 27. September 2023