12|07|2019

Offener Brief Elternschule

Offener Brief an die ARD

Sehr geehrte ARD, Sehr geehrter SWR,

am 3.7. wurde eine Dokumentation mit dem missverständlichen Titel „Elternschule“ gesendet, es gab zusätzlich ein „Extra: Elternschule − Filmgespräch mit Dietmar Langer“ zu dem Film und verschiedene Infos auf der SWR-Homepage („Elternschule | Doku Familien in Ausnahmesituationen“, „Doku im Ersten ‚Elternschule‘ trennt Therapie und Erziehung nicht klar genug“, „FAQ-Antworten auf häufig gestellte Fragen“ „Pressestimmen zum Film Ausgewählte Kritiken zur ‚Elternschule‘ “).

Berichte über Behandlungsmethoden, die nicht zu den evidenzbasierten gehören, (noch) nicht Mainstream sind, eben „Außenseitermethoden“, sind sicherlich grundsätzlich berechtigt.

Es ist Ihnen ja nicht entgangen, dass dieser Film, oder genauer die dargestellten angeblich innovativen Therapieverfahren bei und nach den Kinoaufführungen für Empörung gesorgt haben. Ein Grund für die Empörung war bei vielen die Frage ob wir in unserer Gesellschaft mit Kleinkindern so umgehen wollen, ob das ethisch überhaupt OK ist. Wird die Würde der Kinder verletzt? Ein weiterer Grund war bei vielen die Frage danach, ob wir in unserer Gesellschaft überhaupt mit Kleinkindern so umgehen dürfen, die Frage nach den Kinderrechten. Welche Rechte haben Kleinkinder?

Obwohl es in Ihrer Berichterstattung verschwiegen wird, ist Ihnen vermutlich nicht entgangen, dass eine der für diesen Behandlungskontext zuständigen medizinischen Fachgesellschaften, die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), sich sofort kritisch zu dieser „Außenseitermethode“ der Verhaltenstherapie auf der Grundlage von Zwangsmaßnahmen geäußert hat. Siehe die „Stellungnahme der DGKJP zum Film ‚Elternschule‘, einem Dokumentarfilm von Jörg Adolph & Ralf Bücheler“ vom 2.11.2018 (siehe auf der Homepage der DGKJP und in Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie 2019 Heft 2). Ähnlich hat sich die Fachgesellschaft der Sozialpädiater (die DGSPJ) geäußert. Die DGKJP ist „federführend“ bei den beiden vorliegenden medizinischen Behandlungs-Leitlinien, der „S2k-Leitlinie 028/041 – Psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulter“ aktueller Stand: 09/2015 und der „S1-Leitlinie 028-012 „Nichtorganische Schlafstörungen“ aktueller Stand: 07/2018.

Trotzdem senden Sie diesen Film, ohne ihn in eine ausgewogene Fachdiskussion einzubetten. Ganz im Gegenteil geben Sie einem Protagonisten der Methode noch ausführlich Gelegenheit diese zu erläutern und die offensichtlichsten Schwächen der Dokumentation „schönzureden“ (Extra: Elternschule – Filmgespräch“).

Bei einer ausgewogeneren Berichterstattung der ARD/SWR hätte man z. B. erwarten können, dass bezüglich der ethischen Einordnung von Zwangsmaßnahmen bei Kleinkindern der „Deutsche Ethikrat“ (oder eines seiner Mitglieder) um seine Meinung befragt wird. Weil eine der ersten Fragen, die wir uns vor einer solchen „Zwangsbehandlung“ stellen sollten, ist doch, ob wir diese Therapie überhaupt bei kleinen Kindern, die sich ja noch nicht wehren können, überhaupt anwenden sollten, also die ethische Frage nach der Würde eines Kleinkindes. Kinderrechte und die UN-Kinderrechtekonven-tion wären weitere naheliegende Themen, die Frage danach, welche Rechte wir Kleinkindern, in Abgrenzung zu Kindern und Jugendlichen, noch zugestehen. Ist das Einsperren in einen Raum eine Isolierung? Ist längeres Festhalten eine Fixierung? Und wie kann man den Kommunikations- und Zuwendungsentzug (nicht Reden, kein Trost, keine positive Zuwendung usw.), oder wie es im Film salopp hieß „Handeln nicht Quatschen“, einordnen?

Mir steht es nicht zu, Ihre Recherchen zu beurteilen, aber haben Sie sich gar nicht gewundert, dass es zu diesem „innovativen“ Behandlungsverfahren, was nach der Selbstdarstellung ja über Jahrzehnte besonders erfolgreich sein soll, gar keine wissenschaftliche Publikationen vorliegen, es keinerlei wissenschaftliche Begleitforschung gibt? War es für Sie überhaupt nicht verwunderlich warum in vielen anderen Kliniken unseres Landes diese Behandlungsmethoden in dieser Form nicht genutzt wurden und die Kinder aber ebenfalls „gesund“ wurden und werden?

Die kritischen Fachmeinungen werden von Ihnen einfach ignoriert, sogar bei den Hintergrundinformationen des SWR auf deren Homepage werden die kritischen Stellungnahmen verschiedener Fachgesellschaften einfach verschwiegen (https://www.swr.de/film/elternschule-doku-erziehung-kinder-eltern/-/id=5791128/did=24257382/nid=5791128/y2unnl/index.html; Download 4.7.2019 15:31).

„Verhaltenstherapie“ in der Form von Verhaltenstraining mit Zwangsmaßnahmen um ein bestimmtes, gewünschtes Verhalten durchzusetzen hat es in der Vergangenheit bereits häufiger gegeben. Sie erinnern sich vielleicht noch an Ihre eigenen Filmbeiträge über die sogenannten Boot-Camps in den USA. Um die Boot-Camps ist es aber nicht nur bei Ihnen ruhiger geworden, stellte sich doch heraus dass die Rückfallquoten nicht signifikant besser waren und das auch, weil die willentlich gebrochenen jungen Menschen noch anfälliger wurden für eine Unterordnung unter die „falschen Kumpel“.

Dass ihnen ihr Wille gebrochen wurde, dass sie zu einem gewünschten Verhalten gezwungen werden sollten haben auch immer wieder die Heimkinder aus den Heimen und Anstalten der 50er bis 70er berichtet (siehe den Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung RTH). Mehrere Ihrer Sendeanstalten haben ausführlich über diese schrecklichen Erfahrungen der Betroffenen berichtet. Kürzlich erst hat sich der Bundessozialminister Hubertus Heil bei einer Veranstaltung der Stiftung Anerkennung und Hilfe mit dem Titel “Zeit, über das Leid zu sprechen” (13.5.2019 im Museum für Kommunikation in Berlin) bei den Betroffenen entschuldigt. Im Zwischenbericht der Forschergruppe bezeichnete Prof. Fangerau die in Säuglingsheimen, Heimen und Anstalten erlebte Verhaltensanpassung als „Pädagogische Gewalt im Sinne von Gewalt als Erziehungsmittel“ (Vortrag der Forschergruppe zur „Wissenschaftlichen Aufarbeitung und Anerkennung von Leid und Unrecht“ im Rahmen der Veranstaltung „Zeit, über das Leid zu sprechen“ am 13.05.2019 in Berlin). Der Bundessozialminister Hubertus Heil hat den Betroffenen versprochen, dass sich so etwas nicht wiederholen darf.

Es ist vielleicht noch nicht so bekannt, aber für die Ärzteschaft (also auch einige Mitarbeiter der Klinik in Gelsenkirchen) gelten seit 2017 neue berufsethische Standards. Im „Genfer Gelöbnis“ von 2017 wird für den Arzt festgehalten:

„2. Die Gesundheit und das Wohlergehen meines Patienten wird oberstes Gebot meines Handelns sein.

3. Ich werde die Autonomie und Würde meines Patienten respektieren“ (zitiert nach der „(Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte“, Beschluss des 121. Deutschen Ärztetages 2018 in Erfurt; Hervorhebungen durch den Autor).

Beurteilen Sie bitte selbst, in wieweit bei den gezeigten Behandlungen „Wohlergehen“, „Autonomie“ und „Würde“ der kleine schutzbedürftigen Patienten gewahrt bleiben.

Vielleicht wollten Sie mit Ihrer einseitigen Berichterstattung nur Ihre Investitionen in dieses Filmprojekt „schützen“, vielleicht fällt es Ihnen auch nur schwer einzugestehen, dass Sie die Komplexität des Themas ein wenig unterschätzt hatten, es wäre aber für die sicherlich wichtige Frage der therapeutischen Behandlungsstandards von Kleinkindern und auch im Sinne Ihres öffentlich-rechtlichen Auftrages erfreulich, wen ARD und SWR wieder zu einer ausgewogeneren Berichterstattung zurückfinden könnten.

Dr. Klaus Schepker, Universitätsklinikum Ulm / Mitglied der DGKJP

Ulm, 9.7.2019

Offenen Brief herunterladen